Bochum. „Orest in Mossul“ in der Regie von Milo Rau wird in den Kammerspielen mit stehenden Ovationen gefeiert. Auch die Theaterscouts sind beeindruckt.

Jeder Applaus im Theater hat seinen eigenen Charakter, regelmäßige Besucher entwickeln mit der Zeit ein feines Ohr dafür, welche Akklamation von Herzen kommt und welche nur aus Freundlichkeit absolviert wird. Nach dem Ende der „Orest“-Vorstellung war die Sache klar: Das Publikum feierte die Aufführung mit eine großen Portion Extra-Beifall, bei dem Hochachtung über die erlebten 1:40 Stunden mitschwang.

Hoffnung auf Gerechtigkeit

Tatsächlich bietet „Orest in Mossul“ Theater, wie man es so sicher noch nicht gesehen hat (Rezension im WAZ-Hauptteil). Milo Rau begreift den antiken Stoff als Handweiser für die Gegenwart und macht sich im zerstörten Mossul/Irak auf die Spurensuche nach den Folgen der Gewalt und der Hoffnung auf Gerechtigkeit. Das Publikum in der ausverkauften „Kammer“ folgte der Exkursion in die Dunkelheit und die Abgründe des Menschlichen mit angehaltenem Atem; selten war es so still im Theater, selten die Konzentration so deutlich spürbar.

Der Schluss-Applaus galt der Güte der Produktion, aber er galt zu allererst wohl den Schauspielern. Das internationale Ensemble mit Bühnenkünstlern aus dem Irak und aus den Niederlanden ist noch nie in Bochum aufgetreten (Ausnahme: Elsie de Brauw) und wurde aufgrund seiner packenden Darstellungskunst sofort mit offenen Armen aufgenommen.

Nur wenige Male zu sehen

Da störte es auch nicht, dass die Vorstellung in Niederländisch und Arabisch gesprochen wurde, die deutsche (und englische) Übersetzung läuft als Videoeinspielung mit.

Mit dem Ensemble ließ sich Milo Rau feiern; der 41-jährige Schweizer Theatermacher mit Wohnsitz in Köln schwimmt seit einigen Jahren auf einer Welle der Popularität. Sein ungewöhnlicher Theateransatz – Bühnenspiel und Realität mit dem unbedingten Willen zur Aufklärung zu verschränken – ist inzwischen ähnlich prägend wie seinerzeit Lars van Triers „Dogma“ fürs Filmemachen. Vor zwei Jahren wurde Rau im Schauspielhaus der Peter-Weiss-Preis verliehen – ein Kulturpreis, der genau das spartenübergreifende künstlerische Herangehen ehrt, das auch den Namensgeber des Preises auszeichnete.

Feststehendes Bühnenbild

„Orest in Mossul“ wird nur bis 30. Mai gezeigt. Auch diese Produktion unterliegt der von Intendant Johan Simons ausgerufenen En-suite-Idee, wonach Produktionen in den Kammerspielen nur für eine begrenzte Zeit im feststehenden Bühnenbild aufgeführt werden.

Möglicherweise wird dies in der neuen Saison neu gedacht, denn viele Theatergänger wundern sich, wie rasch manche Produktion schon wieder vom Spielplan verschwunden sind. Beim „Hamiltonkomplex“ war das schon so. Inzwischen taucht Lies Pauwels‘ viel gerühmte Aufführung zumindest punktuell wieder im Programm auf.

>>Das sagen die Theaterscouts

Anhand der griechischen Tragödie Orestie von 458 v. Chr. verdeutlicht Milo Rau das Grauen aktueller, politischer Konflikte wie die sinnlose Zerstörung Mossuls im Nordirak und die Traumatisierung und Ermordung vieler Menschen dort. Berührend zeigt die internationale Schauspieltruppe Schmerz, Trauer und die Spirale von Gewalt. Rau zwingt uns zuzusehen, wie Menschen erschossen werden. Hier kann man nicht wegsehen – man spürt alles hautnah mit! Theater muss auch Ort für politische Wahrheiten sein, und das ist hier absolut gelungen. Hanne Höppner

Die Verbindung der klassischen Rachegeschichte mit dem fürchterlichen Bürgerkrieg in Mossul gelingt eindrucksvoll. Das Zusammenwirken der Videobilder vom Spiel in der total zerstörten Stadt mit den Akteuren auf der Bühne zeigt die Kraft des Theaters, uns mit einer Wirklichkeit zu konfrontieren, deren Gewalttätigkeit schonungslos veranschaulicht wird. Es gibt – so der Mythos – ein Ende der Gewaltkette: das Recht und die Demokratie. Milo Rau sieht die Hoffnung im vielschichtigen Spiel. Ein starker, interessanter Blick auf die ,mad world’.“
Hermann-Josef Teigelkamp

Die Inszenierung hat mich sehr berührt. Wir alle kennen die Bilder aus dem Krieg im Irak aus der Tagesschau. Diese Realität verknüpft die Regie mit der ,Orestie’ von Aischylos und seinen tragischen Helden. Wenn wir Agamemnon, der seine Tochter Iphigenie opfert und von seiner Frau getötet wird, per Video in Mossul sehen, werden die Abgründe der menschlichen Existenz, die sich von der Antike bis zur Gegenwart durchziehen, deutlich. Ein anspruchsvoller Theaterabend, der aber nicht überfordert. Ein Theaterereignis, das seinesgleichen sucht.“
Sabine Schweinsberg