Bochum. . „Der Hamiltonkomplex“ und „White People’s Problems“ runden den Saison-Start des neuen Intendanten Johan Simons ab

Mit zwei Aufführungen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können, endete das Premierenwochenende zum Spielzeitauftakt von Johan Simons am Schauspielhaus. Zweimal gab’s Bühnenkunst, die eine starke internationale Note nach Bochum brachte. Und damit einen sehr anderen als den gewohnten künstlerischen Blickwinkel. Denn nicht nur Johan Simons’ Schauspiel-Ensemble ist von internationalem Zuschnitt, sondern auch die übrige Crew. Aus Belgien hatte der Niederländer für seinen Start Benny Claessens und dessen Stückentwicklung „White People’s Problems/The Evil Dead“ sowie Lies Pauwels Performance „Der Hamiltonkomplex“ nach Bochum geholt.

Zwischen Mädchen und Frau

Der „Hamiltonkomplex“, der im Namen auf den in den 70er-Jahren mit weichgezeichneten Fotografien junger Mädchen bekannt gewordenen David Hamilton („Bilitis“) abhebt, kommt als munter-nachdenkliche Aufführung mit Tanz und Musik daher; Thema ist der Übergang vom Kind zur Frau. Der Clou: Lies Pauwels hat ihr Stück, das in seiner Grundanordnung schon vielerorts in Europa zu sehen war, mit dreizehn 13-jährigen Mädchen aus dem Ruhrgebiet neu einstudiert; die Teenies spielen also quasi sich selbst. Ihre Nöte und Gelüste – von der ersten Periode bis zum kollektiven Kreischalarm beim Auftauchen von Elias M’Barek – dienen als Folie für die Erkenntnis, dass Mädchen mit 13 hin- und hergerissen sind zwischen Erwartungen und Identitätssuche. Sie wollen die Welt und deren Konventionen, Codes und Regeln verstehen lernen, also erwachsen werden – aber mit Mama kuscheln möchten sie auch noch. Was dazwischen alles passieren kann, zeigt die ungemein präzise, lustvoll und kess aufspielende Laien-Compagnie in dynamischen Bildern, die amüsieren und berühren.

Ist Lies Pauwels’ Muntermacher letztlich eine konventionelle Aufführung mit hohem Schauwert, braucht man für Benny Claessens’ „White People’s Problems/The Evil Dead“ Nerven wie Drahtseile. In der zum Schauspielhaus gehörenden Zeche 1 setzt der hoch gelobte belgische Schauspieler und Regisseur voll auf Schockeffekt. Im Kern geht es ihm um die Frage, wie sehr auf den Bühnen des Westens unbewusst tradierte Rassismen und Sexismen mitschwingen. Theater in Deutschland werde nach wie vor von weißen Männer dominiert, erklärt Claessens. Aber warum ist das so? Spiegeln die Probleme dieser Gruppe tatsächlich das Denken des Publikums? Das der Frauen?

„White People’s Problems/The Evil Dead“ basiert auf Gerhart Hauptmanns Dramen „Die Weber“ und „Vor Sonnenaufgang“, aber natürlich bleibt davon nicht viel übrig. Text-Fragemente zweier Referenz-Werke des naturalistischen Theaters werden im abgerockten Ambiente der Zeche 1 – einer alten Waschkaue – buchstäblich begraben; die Kumpels der Zeche Prinz-Regent kriechen als Untote wieder hervor. Wer es nicht gesehen hat, macht sich keine Vorstellung davon, was hier „abgeht“!

Politisch, poetisch, witzig - und roh

Benny Claessens verrührt Fantasien, Ideen, Ängste, Vermutungen, Gewissheiten, Obsessionen und Selbstzweifel über Politik und das Verhältnis der Geschlechter zu einem brodelnden Absud, der nach Leichenhaus, Erniedrigung und sexueller Ausbeutung schmeckt – also nach allem, was europäischer Kolonialismus für Afrika mit sich brachte. Und was bis heute nicht nur in der Ausbeutung des Planeten nachwirkt. So vermittelt sich eine Kunsterfahrung, die schwer gewöhnungsbedürftig ist; nicht zuletzt, weil die Aufführung vier (!) Stunden dauert.

Wer sich aber darauf einlässt, wird nicht nur durch spielfreudige Schauspieler entschädigt. Vielmehr wird man ein Werk entdecken, das bei aller assoziativen Rohheit politisch, poetisch und – witzig ist. Klar ist aber auch, dass solch überfrachtetes Radikaltheater nicht von allen Zuschauern goutiert werden dürfte. Am Premierenabend gingen die ersten noch vor der Pause.