Bochum/Hattingen. . Wenn Kinder misshandelt werden, können sie sich selten wehren. Manche gehen erst als Erwachsene zur Polizei. Ein Betroffener berichtet.
Ein „auffälliges Kind“ sei er gewesen, sagt Jan*, zumindest hätten die Eltern das so gesehen. Ein Kind mit schlechten Noten, schon in der Grundschule, ein Kind, das zu viele Süßigkeiten aß. Ein Kind, das nicht tat, was man ihm sagte. Das Ausreden erfand und log. Und dafür beinahe täglich den Kochlöffel der Mutter zu spüren bekam oder die Hand des Vaters.
Ein Aktenordner voller Unglück
Das Kind von damals ist erwachsen geworden. Hat viele Therapeuten, viele Krankenzimmer gesehen, ist in Gedanken wieder und wieder in die kalte Welt seiner Jugend gereist, um entmutigt ins Jetzt zurückzukehren, in das Leben, dessen Risse sich einfach nicht kitten lassen. Das er irgendwann nur noch wegwerfen will. Ein Suizidversuch misslingt.
„Sie sind jetzt soweit“, sagt eine Therapeutin zu ihm, als er sich wieder erholt hat. Beinahe 20 Jahre, nachdem er die ersten Schläge hat einstecken müssen, geht Jan zur Polizei und beauftragt einen Anwalt. Er schreibt an Zeitungen, an Fernsehsender. Er wolle sich „Gehör verschaffen, um anderen Opfern Mut zu machen“, steht in seiner ersten Mail. Zum Gespräch bringt er seinen Betreuer mit. Jan ist auf Hilfe angewiesen, nach wie vor, leidet unter Depressionen und Panikattacken, tut sich schwer mit sozialen Kontakten, muss Medikamente nehmen.
Trotzdem hat er viel erreicht: das Abitur, den Führerschein, die eigene Wohnung. Als nächstes will er Verständnis – und Genugtuung. Deshalb hat er sich akribisch vorbereitet, hat Protokolle, Notizen, Briefe, Krankenberichte und Jugendamtsunterlagen gesammelt und mitgebracht. Ein Aktenordner voller Unglück. Dennoch geben ihm die Seiten Kraft: Es ist ja jetzt alles da, auf Papier, zum Nachlesen und Vorzeigen. „Ich habe immer noch Angst, dass man mir nicht glaubt – früher hat mir keiner geglaubt.“
Hattinger Jugendamt will keine Stellung nehmen
Beim Jugendamt seiner Heimatstadt Hattingen habe er damals um Hilfe gebeten. Vergeblich. Weil sich Sachbearbeiterin und Familie gut kannten, vermutet Jan. Weil die Familie immer wieder einsprang, wenn das Jugendamt Kinder unterbringen musste. Wie auch bei ihm, den sie erst als Pflegekind aufgenommen und später adoptiert hatten. „Nach außen waren wir die perfekte Familie.“ Nur dass er, das „auffällige“ Kind, seine Schulhefte versteckte, aus Angst vor Bestrafung für die Zensuren, und Löffel und Abfall in seinem Zimmer hortete, aus Angst vor Bestrafung für sein Essverhalten. An die Gewalt habe er sich irgendwann gewöhnt, sagt Jan, nicht aber an den „Liebesentzug“.
Beim Hattinger Jugendamt will man zu dem Fall nicht öffentlich Stellung nehmen. „Selbst mit Einverständnis einer der betroffenen Personen, gibt es immer noch Dritte, die beteiligt sind, und deren Rechte ebenfalls gewahrt bleiben müssen. (…) Intern wird dem Vorwurf nachgegangen werden“, teilt die Pressestelle der Stadt mit.
Es gibt immer nur kleine Einblicke in die Familien
Natürlich könne man zu einem Hattinger Fall nichts sagen, heißt es beim Bochumer Jugendamt. Man wolle sich auch kein Urteil anmaßen. Das Risiko, dass eine Fehlentscheidung zulasten der Kinder getroffen werde, lasse sich allerdings nie ganz ausschließen, sagt Amtsleiter Dolf Mehring. In Bochum gelte für Ortstermine zwar ein „Vier-Augen-Prinzip“. Dennoch erhalte man immer nur „einen kleinen Einblick in eine Familie“.
Nachdem in Bochum 2005 ein Säugling infolge von Misshandlungen gestorben war, obwohl eine Ärztin rechtzeitig das Jugendamt eingeschaltet hatte, wurden dort die organisatorischen Standards und die Personalausstattung überarbeitet. Früher habe man sich quasi selbst kontrolliert, so Mehring, heute gehen etwa Beschwerden an eine andere Abteilung.
Viele Menschen mit ähnlichen Erfahrungen getroffen
Jan hofft, dass sich auch beim Hattinger Jugendamt mittlerweile etwas geändert hat.
Auf seinem Weg hat er viele Menschen kennengelernt, die ähnliches durchgemacht haben wie er. Auch die Mitarbeiter der Opferschutzorganisation Weisser Ring haben immer wieder mit Erwachsenen zu tun, die als Kinder misshandelt worden sind. Eine eigene Statistik dazu führe man nicht, sagt die Leiterin Stephanie Ihrler. Doch es gebe ohnehin viele Fälle, die in keiner Statistik auftauchen würden. Es sei ungewöhnlich, dass einer den Mut finde, öffentlich über seine Erlebnisse zu sprechen – so wie Jan, das auffällige Kind, dessen Leiden niemandem je auffiel.
* Name von der Redaktion geändert.
>>> INFO: Wo Opfer von Gewalt und Missbrauch Hilfe finden
Die Beratungsstelle Neue Wege der Caritas hilft Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen (bis 26 Jahre), die Gewalterfahrungen machen mussten. Auch Eltern oder Angehörige können sich hier beraten lassen. Kontakt: 0234/ 50 36 69 oder neuewege@caritas-bochum.de