Bochum. Wenn eine Handvoll Leben die ganze Welt bedeutet: Ein Bochumer Paar feiert mit seinem Frühchen Weihnachten. Es wog bei der Geburt 680 Gramm.
Der Heilige Abend: Er entfacht für Familie Tanner (Name geändert) in diesem Jahr einen besonderen Zauber; eine überbordende Freude und Dankbarkeit, die die jungen Eltern all die angsterfüllten Monate vergessen lassen. Seit Juni ist Klara auf der Welt. Ein Glück, das so ungeheuer zerbrechlich war. Denn Klara ist ein Frühchen, bei ihrer Geburt weniger als drei Päckchen Butter leicht. Hoher ärztlicher Kunst – vielleicht ja neben göttlicher Fügung – ist es zuzuschreiben, dass ihr Töchterchen bei ihnen und wohlauf ist.
Anfangs ist es für Sandra Tanner eine Traumschwangerschaft. Es ist ihr erstes Kind. „Bis zur 21. Woche lief alles superglatt“, berichtet die 30-Jährige. Umso dramatischer entwickeln sich die folgenden Wochen. Mit massiven Blutungen und abrupt einsetzenden Wehen muss die Apothekerin per Notarzt ins St.-Elisabeth-Hospital. „Die Geburt“, schildert Chefarzt Dr. Peter Kern, „war quasi schon im Gange“ – 19 Wochen vor dem regulären Termin.
Im „Eli“ werden jährlich 250 Frühchen versorgt
250 Frühchen werden jährlich im St.-Elisabeth-Hospital versorgt. Die Geburtshilfe und die Neonatologie sind als Zentrum der höchsten Sicherheitsstufe („Level 1“) zertifiziert.
Als Frühgeborene gelten Babys vor der 37. Woche. Im „Eli“ sind die meisten Frühchen zwischen der 23. und 32. Woche zur Welt gekommen. Fast alle kommen durch: Pro Jahr gibt es im Schnitt vier Sterbefälle.
Ein bizarres Ultraschallbild dokumentiert die Gefahr. Ein Ärmchen von Klara greift schon nach draußen – in ein Leben, in dem der Winzling in diesem Stadium eine gerade mal fünfprozentige Chance hätte. Ein Blasensprung droht. Dr. Kern greift zu einer selbst entwickelten Methode: Er schiebt den Säugling zurück, verschließt den Muttermund („Cerclage“ genannt) und lässt Fruchtwasser abfließen. Das größte Risiko ist gebannt. „30 Minuten später“, sagt Kern, „und die Kleine hätte es nicht geschafft.“
17 Tage können die Mediziner den alten Türsteher-Spruch abwandeln: „Du kommst hier nicht raus!“ Jeder Tag ist ein Geschenk und immens wertvoll, weiß die Mutter, die das Bett hütet. Am 3. Juni, es ist die 25. Schwangerschaftswoche, gibt’s kein Halten mehr. Klara kommt. Mit 680 Gramm Geburtsgewicht (normal sind 3500) und 32 Zentimetern (der Durchschnitt liegt bei 50). Eine Handvoll Leben. Doch mit unbändigem Kampfgeist. So fragil das tapfere Mädchen ist: Es will, es wird sich in dieser Welt behaupten.
Kleine Kämpferin schlägt sich tapfer
Knapp sieben Monate später. Die Erschöpfung ist aus den Gesichtern von Sandra und Jonas Tanner (31) gewichen. Glückselig wiegt Mama ihren schlummernden Schatz an der Brust. Papa listet die aktuellen Daten auf. Klara hat mächtig zugelegt, bringt es bei 58 Zentimetern auf 5300 Gramm. „Es war ein Auf und Ab. Die Furcht war immer da“, erinnern sich die Eltern.
Zwölf Wochen wird Klara auf der Frühgeborenen-Abteilung (Neonatologie) im Inkubator versorgt, aufgepäppelt, über eine Magensonde ernährt. Vater und Mutter sind im Schichtdienst stets an ihrer Seite. Voller Liebe und Fürsorge. Wann immer möglich mit Hautkontakt, der elementar ist für das Gedeihen. Die Spezialisten im „Eli“ leisten derweil das medizinische Maximum. „In den 90er Jahren sind Frühchen unter 1000 Gramm noch sehr oft verstorben“, sagt der Leitende Arzt Dr. Norbert Teig. Heute gebe es ab 500 Gramm eine „realistische Überlebenschance“ – wenn auch oft mit gesundheitlichen Einschränkungen und Behinderungen. Besonders gefährdet: Lunge, Augen, Hirn.
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Klara hat sich fantastisch geschlagen. Bleibende Schäden seien nicht zu befürchten, versichern die Ärzte. „Sie ist ausgeglichen und pflegeleicht“, sagt Mama Sandra, die dankbar ist, von den Krankenschwestern des „Bunten Kreises“ unterstützt zu werden. Dr. Kern teilt das Glück. Er lächelt, blickt Klara liebevoll an und sagt: „Ein kleines Wunder.“ Ein Weihnachtswunder.