Bochum. . Weil ein Brief zurückkam, hat Thyssen-Krupp die Zahlung der Werksrente an eine Bochumerin gestoppt. Das fiel erst auf, als sie ins Altenheim zog.

  • Thyssen-Krupp hat eineinhalb Jahre keine Werksrente an eine 90-jährige Witwe gezahlt
  • Grund: Ein Brief an die Bochumerin war damals als unzustellbar zurückgekommen
  • Der Konzern bestätigt das Vorgehen, kündigt aber die rückwirkende Fortzahlung an

„Ich bin doch noch da!“ Margarete D. lebt seit Kurzem im Altenheim, ist aber körperlich und geistig bei guter Gesundheit. Beim Stahlkonzern Thyssen-Krupp sah man das offenbar anders. Der 90-Jährigen wurde eineinhalb Jahre keine Werksrente überwiesen. „Man hat Frau D. dort schlicht für tot erklärt“, sagt ihr Vertrauter Arnold Nicolaisen (78). Thyssen-Krupp bestätigt den Vorfall und spricht von „gängiger Praxis“.

64 Jahre lebte die Wattenscheiderin in ihrer Wohnung in Westenfeld. 2012, „eine Woche vor unserem 65. Hochzeitstag“, starb ihr Mann. Vier Jahrzehnte hatte er als Dreher bei Krupp gearbeitet. Als Witwe hat Margarete D. Anspruch auf die monatliche Betriebsrente: 75,30 Euro.

Nie genauen Überblick gehabt

„Mein Mann hat sich immer ums Geld gekümmert“, erzählt die Seniorin. Deshalb habe sie nie einen genauen Überblick über ihr Konto gehabt – und somit nicht gemerkt, dass die Rente seit April 2016 nicht mehr überwiesen wurde. Das fiel erst Arnold Nicolaisen auf. Beim Senioren-Frühstück im Jochen-Klepper-Haus hatte er Margarete D. kennengelernt. Seither hilft er der 90-Jährigen – vor allem seit Juni, als sie nach einem Sturz in die Klinik musste und alsbald feststand, dass sie nicht mehr daheim würde leben können.

Auch interessant

Im SBO-Heim an der Bayernstraße fand sich ein Kurzzeitpflegeplatz. Hier will Margarete D. dauerhaft bleiben. Sie vertraute Arnold Nicolaisen im August per Vollmacht ihre Finanzen an. Der wälzte die Akten und Auszüge – und entdeckte, dass die Werksrente von Thyssen-Krupp seit Frühjahr ausgeblieben war.

Renten-Stopp ist „gängige Praxis“

Anruf in der Essener Zentrale. Antwort: Man habe im März 2016 ein Informationsschreiben an Frau D. versandt. Das sei als unzustellbar zurückgekommen (obwohl die Seniorin damals noch daheim wohnte). Was Nicolaisen dann hörte, mochte er „kaum glauben: Wegen des Rückläufers hat man die Rentenzahlung gestoppt. Frau D. sei ,bei uns nicht mehr existent’, hieß es“. Die 90-Jährige ist entsetzt. „Zählt der Mensch denn gar nicht mehr?“, fragt sich die zweifache Mutter und Oma.

Arnold Nicolaisen kämpft für sie, hat den Petitionsausschuss ebenso eingeschaltet wie den Betriebsrat. Neben der Nachzahlung fordert er eine Entschädigung für Margarete D. Denn: „So geht man mit Witwen verdienter Mitarbeiter nicht um!“

Auch interessant

Auf WAZ-Anfrage erklärt Thyssen-Krupp: Oftmals vergäßen die Hinterbliebenen, den Konzern über einen Todesfall zu informieren. Daher sei es „gängige Praxis, die Rentenzahlungen zunächst einzustellen, wenn Briefe als unzustellbar zurückkommen“. Nach dem Schriftverkehr mit Arnold Nicolaisen sei man „zur Überzeugung gekommen, dass die Witwe unseres ehemaligen Mitarbeiters noch am Leben und bezugsberechtigt ist“. Die rückwirkende Fortzahlung der Rente sei inzwischen in die Wege geleitet worden.

>>> Kommentar von Sebastian Hetheier: „Zeit ist Geld“ von Sebastian Hetheier

Ist schon eine kuriose Unternehmenspraxis. Da werden Briefe verschickt, um quasi nachzuhören, ob ehemalige Mitarbeiter und ihre Angehörigen noch am Leben sind. Im Falle von Frau D. ist er nicht zustellbar – und prompt wird sie für tot erklärt. Die Einstellung der Werksrente folgt unmittelbar.

Solche schnellen Schlüsse ohne vorhandenen Totenschein zu ziehen, ist zynisch. „Zeit ist Geld“, scheint hier nicht plattes Motto, sondern ökonomische Räson zu sein: Wer zu lange lebt und Werksrente bezieht, ist ein entscheidender Kostenfaktor. Klar, so etwas summiert sich. Thyssen-Krupp ist ein Großunternehmen mit etwa 100 000 Menschen, die Betriebsrente beziehen. Die Renten sind mit erheblichen Rückstellungen zu decken. Dass das Unternehmen die Zahlungen wieder aufnimmt, obwohl es sich dazu rechtlich nicht verpflichtet sieht, klingt nach großzügiger Geste, eine Entschuldigung bei Frau D. folgte bislang aber nicht.