Bochum. . Gewaltsame Verfolgung der Jesiden zwingt Menschen zur Flucht aus Angst. In der Flüchtlingsunterkunft an der Wohlfahrtstraße beginnt ihr neues Leben.
Auf den Herdplatten brutzelt ein irakisches Mittagessen mit Bulgur. Nasdar A. (Namen von der Redaktion geändert) kocht für ihren Mann Azad A. und ihre zwei Kinder. Als Topflappen benutzt sie ein altes Kleidungsstück. Der Alltag in Deutschland hat für die jesidische Familie begonnen. Die sechsjährige Tochter ist ein i-Dötzchen in Wiemelhausen und heute stehen zwei Wohnungsbesichtigungen auf dem Plan. Seit einem Monat wohnen sie in der Flüchtlingsunterkunft an der Wohlfahrtstraße. Ihre zwei Container messen zusammen knapp 30 Quadratmeter. Insgesamt leben etwa 270 Menschen aus 24 Nationen hier, die sich oft nur mit Händen und Füßen verstehen können.
Im Irak betrieb Azad A. eine Bäckerei und verdiente gutes Geld. Für die Flucht verkaufte er sein Auto und das Gold der Frau. Die ganzen 30 000 Dollar kostete sie der lange Weg nach Deutschland. Einen Monat lang war die Familie unterwegs, davon zwölf Tage zu Fuß. „Wir sind fortgelaufen vor Mord, vor dem Sterben. Es war nicht leicht“, sagt die 31-jährige Nasdar A. Die Traurigkeit wiegt schwer in ihren Augen. Vor allem der Kinder wegen sei die Flucht vor den gewalttätigen IS-Kämpfern unvermeidbar gewesen, schildert das Ehepaar. Eine Zukunft im Irak erschien unmöglich. „Wir sind nicht wegen des Geldes geflüchtet, sondern wegen der Sicherheit. Wenn wir in unserer Heimat arbeiten und leben könnten, würden wir mehr Geld haben“, schildert Azad A.
Politiker leistete Widerstand
Wie ausweglos die Situation für die Jesiden im Irak geworden ist, berichtet auch Kheri Shingaly, der seit zehn Monaten in Deutschland lebt. Er kam zu einer Konferenz in ein Haus für Jesiden nach Kalkar und zog zu seinem Sohn nach Bochum in eine Wohnung. Der 29-jährige Adnan A. lebt seit fast vier Jahren in Bochum, spricht gut Deutsch und übersetzt auch für Schwager und Schwägerin Azad und Nasdar A.
UN: Religiöse Minderheit wird Opfer eines Völkermords
Die Jesiden (auch Yeziden oder Eziden genannt) sind eine zumeist Nordkurdisch sprechende religiöse Minderheit mit mehreren hunderttausend Angehörigen, deren ursprüngliche Hauptsiedlungsgebiete im nördlichen Irak, in Nordsyrien und in der südöstlichen Türkei liegen. Das Jesidentum ist eine monotheistische, nicht auf einer heiligen Schrift beruhende und nicht missionierende Religion. Heute sind Jesiden durch Auswanderung auch in anderen Ländern verbreitet (Quelle: Wikipedia).
Die grausamen Verbrechen an den Jesiden durch den Islamischen Staat (IS) im Irak werden von den Vereinten Nationen (UN) als Völkermord eingestuft.
Kheri Shingaly ist ein jesidischer Politiker der Patriotischen Union Kurdistan in Südkurdistan und Autor mehrerer Bücher über die jesidische Kultur. Er war als Kommandeur einer Widerstandsgruppe dabei, als der IS im August 2014 im Shingal-Gebirge Hunderttausende Jesiden einkesselte, als Tausende Menschen starben, getötet wurden oder verdursteten. „Mehr als 700 junge Jesiden kämpfen freiwillig an der Seite der Tawisî Melek Brigade gegen die ISIS, um die Jesiden in Shingal zu verteidigen“, erläuterte er in einem Interview mit dem TV-Sender Al-Sumaria.
An der Wohlfahrtstraße zeigt er auf seinem Handy ein Video, das ihn kämpferisch zeigt, wie er seine Landsleute zum Widerstand motivierte. Heute wirkt Shingaly fast resigniert. „Unsere Heimat gehört uns nicht mehr, Tausende Jesiden sind gestorben, Mädchen wurden entführt und verkauft“, schildert er. Er kämpfe weiter für sein Volk und hoffe auf Hilfe auch von der Europäischen Union. „Wenn sie den Widerstandskämpfern mit Waffen helfen würden, könnten sie die Leute verteidigen“, so sein Sohn.
Flüchtlinge in DeutschlandIn Deutschland fühle sich die Familie gut aufgenommen – vor allem wegen der Religionsfreiheit, so Adnan A. weiter. Auch er kehrte dem Irak aus Angst den Rücken. Durch eine Schussverletzung beim Militär sitzt er im Rollstuhl. Er fühlte sich zu abhängig und reiste 2010 mit Visum nach Deutschland. Seit über einem Jahr sind auch seine Frau und Tochter bei ihm. Alle Familienmitglieder haben recht schnell eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten. Trotzdem bleibt Unsicherheit und Traurigkeit. Die Familie ist zerrissen. „Ich wünsche mir, dass ich meine Mutter holen kann“, sagt Azad A. Auch die Ehefrau von Shingaly und Geschwister von Adnan A. sollen noch folgen.
Während die junge Mutter Nasdar A. noch einmal mit den Tränen ringt und sich kurz in den Wohncontainer zurückzieht, berichtet Adnan A., dass er seinen Deutschkurs abgeschlossen hat und als Dolmetscher für die Caritas arbeiten möchte. Er ist angekommen.