Amsterdam. . Der Wattenscheider Sprinter Julian Reus nähert sich der magischen 9 vor dem Komma. Im Interview spricht der schnellste Deutsche über Geld, Rekorde und die EM.

Julian Reus ist der schnellste Deutsche und einer der bekanntesten deutschen Leichtathleten. Bei den Europameisterschaften von Mittwoch, 6. Juli 2015, bis Sonntag, 10. Juli, in Amsterdam ist er auf seinen Einzelstrecken 100 und 200 Meter sowie mit der deutschen Sprintstaffel ein heißer Medaillenkandidat. Seine gute Form bewies der Sprinter vom TV Wattenscheid vor zwei Wochen mit dem deutschen Rekord über 100 Meter in 10,03 Sekunden. Vor der EM spricht Julian Reus im Interview mit dieser Zeitung über seine Aussichten, macht sich aber auch grundlegende Gedanken über Gesundheit und Geld.

Nach Ihrem deutschen Rekord über 100 Meter haben Sie gesagt, jetzt werde ich meinen Körper erst mal in Watte packen. Wie sieht Julian Reus in Watte aus?

Julian Reus: Vielleicht war es etwas übertrieben, aber es geht darum, dass ich in der kurzen Zeit bis zu den Europameisterschaften in Amsterdam noch intensiver in meinen Körper hinein horche. Die Geschwindigkeiten meiner Läufe sind jetzt höher als beispielsweise im März oder April. Weil das Risiko so größer ist, habe ich die eine oder andere Behandlung mehr, die eine oder andere Trainingseinheit jedoch weniger gemacht. Kältebecken, Physiotherapie: Alles was ein Sprinter braucht, um schnell zu bleiben. Die Form ist da, jetzt muss ich gesund bleiben, um sie bei der EM und dann bei den Olympischen Spielen in Rio abzurufen.

Woran merken Sie, dass Sie jetzt besonders auf Ihren Körper aufpassen müssen?

Reus: Ich arbeite seit über zehn Jahren mit meinem Physiotherapeuten zusammen. Der spürt, ob und wo es Spannungen in der Muskulatur gibt. Wichtig ist auch das Auge meines Trainers, der sieht, ob mein Laufbild gut ist oder ob ich ein wenig müde wirke. Dann ist die Gefahr einer Verletzung größer. Und dann bin ich selbst auch noch da. Ich merke, ob ich nach einem Wettkampf beispielsweise mal eine Einheit auslassen muss. Das größte Talent ist Gesundheit. Im Sprint muss man hundertprozentig fit sein.

Sie kennen ja auch andere Zeiten. Nachdem Sie 2007 Doppel-Junioren-Europameister geworden sind, haben Sie einige Jahre nicht Ihr Talent ausschöpfen können.

Reus: Ja, Da ist einiges zusammen gekommen. Eine Borreliose, Knochenödem am Schambein.

Haben Sie in dieser Zeit mal gedacht, jetzt gebe ich auf?

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Reus: Nein. Nie. So wollte ich nicht aufhören. Ich habe gespürt, dass ich längst nicht an meinem Leistungslimit angekommen war. Ich habe immer daran geglaubt, gesund zu werden und dann schneller als meine damalige Bestzeit von 10,28 Sekunden zu laufen.

Das haben Sie eindrucksvoll bewiesen und sind jetzt die Nummer drei über 100 Meter in Europa. Mit welchem Ziel fahren Sie zur EM nach Amsterdam?

Reus: Ich will mein Ding durchziehen, ich will Rennen machen, mit denen ich dann zufrieden bin. Keine Fehler machen und das Bestmögliche geben. Wozu es dann reicht, kann ich jetzt noch nicht sagen. Die Konkurrenz liegt eng zusammen: Zwischen Platz drei und 15 liegt rund eine Zehntelsekunde. Die kleinsten Fehler können entscheidend sein.

Eine Medaille ist aber möglich?

Reus: Es ist möglich, aber ich kann auch Vierter in sagen wir 10,08 Sekunden werden und der Dritte hat 10,07. Ich messe mich nicht daran, ob ich eine Medaille gewinnen, sondern daran wie meine Leistung ist und ob ich damit zufrieden bin. Auf die Gegner habe ich keinen Einfluss.

Realistisch gesehen haben Sie bei der EM die einzige Chance auf eine Einzelmedaille, weil bei Olympia und Weltmeisterschaften die Konkurrenz aus den USA und der Karibik im Sprint übermächtig ist.

Reus: Realistisch gesehen ist es so. Aber wie gesagt: ohne ein eigenes gutes Rennen geht es nicht. Mit der Staffel sind wir 2012 und 2014 jeweils Zweiter und bei den letzten beiden Weltmeisterschaften jeweils Vierter geworden. Deshalb ist es unser Anspruch, unsere Leistung ein weiteres Mal zu zeigen. Wenn wir einen guten Job machen, dann ist eine Medaille drin.

Sie sind der schnellste Deutsche. Das ist etwas ganz Besonderes. Was bedeutet Ihnen dieses Attribut?

Reus: Das hört sich schön an, aber ich bin eher Rationalist als Gefühlsmensch. Ich bin noch mitten in meiner Karriere. Darüber mache ich mir eigentlich gar keinen Kopf. Mich interessiert, wie kann ich noch besser werden? Was muss ich dafür gegebenenfalls ändern? Die pauschale Aussage schnellster Deutscher bedeutet mir weniger als die Tatsache, dass ich seit 2012 in jedem Jahr schneller als 10,10 gelaufen bin.

Was haben Sie getan, um in jedem Jahr noch schneller zu werden?

Reus: Harte Arbeit. Ich kann nicht ein, zwei, drei Dinge benennen. Das ist ein Zusammenspiel vieler Faktoren, das sind kleinste Stellschräubchen. Ganz wichtig sind mein Team, meine Familie, mein Verein TV Wattenscheid, die Bundeswehr und auch meine Staffelkollegen.

Wie lässt sich der schnellste Deutsche vermarkten?

Reus: Ich mache meinen Sport nicht wegen des Geldes. Das ist ein schwieriges, komplexes Thema. Wann ist man mit seinen Einnahmen zufrieden? Wieviel sollte der schnellste Deutsche oder der beste deutsche Fußballer verdienen? Das sind alles Fragen, die sich nicht beantworten lassen. Die einen sagen, ich verdiene gut, die anderen meinen, es sei zu wenig. Ich führe ein glückliches Leben, weiß aber, dass das verdiente Geld nicht dazu ausreicht länger davon zu leben. Deshalb habe ich mich um eine vernünftige Ausbildung gekümmert. Der Sport gibt mir so viel, dass ich es nicht auf die die Beantwortung der Frage herunter brechen möchte, ob ich genug damit verdient habe.

Sind Sie nicht manchmal neidisch auf Ihren Namensvetter, den Dortmunder Fußballstar Marco Reus?

Reus: Nein, das bringt auch nichts. Ich möchte gar nicht mit ihm tauschen. Alles hat seine Vor- und Nachteile. Es ist wichtiger, ein glücklicher Mensch zu sein als viel Geld zu verdienen.

Ich weiß, die Frage, ob und wann Sie die Zehn-Sekunden-Marke unterbieten, mögen Sie nicht. Ich muss sie trotzdem stellen.

Reus: Seit drei Jahren höre ich sie. Ich will eigentlich nichts mehr dazu sagen. Mittlerweile ist es ja schon fast so, dass die Leute es fordern. Das kann ich nicht verstehen. Ich bewerte meine sportliche Karriere nicht danach, ob ich unter zehn Sekunden gelaufen bin oder nicht. Ich kann es schaffen, wenn alle Bedingungen stimmen, aber hinter meinem Sport steckt viel mehr als diese einzige Zahl.