London. Kunstturner Marcel Nguyen gewann sensationell Silber im Mehrkampf - und damit die erste deutsche Medaille im Königswettbewerb seit 76 Jahren. Fabian Hambüchen dagegen erlebte einen rabenschwarzen Tag.

Mitten im Gewühl taucht ein Junge auf. Er ist schmal wie ein gefaltetes Handtuch mit Kopf. Er sieht aus der Nähe überhaupt nicht aus wie die übrigen Kraftpakete, die das Turnen der Welt beherrschen. Der Junge ist Marcel Nguyen, und er hat vor einer Viertelstunde in London Silber im Mehrkampf gewonnen. Seit 76 Jahren hat Deutschland in der Disziplin der Turnkönige keine Olympia-Medaille mehr geholt.

Bis zu diesem Abend. Nguyen, der stets auf eine gute Frisur achtet, lächelt. Für Jungs wie ihn muss das Scheinwerferlicht erfunden worden sein. Seine Worte darf man in den Minuten des Triumphes dagegen noch nicht auf die Goldwaage legen. Er sagt das, was alle Überraschungssieger sagen: „Wahnsinn, ich kann es noch gar nicht glauben.“ Und: „Ich habe als kleiner Junge davon geträumt, eine Olympia-Medaille zu gewinnen, und heute ist es tatsächlich wahr geworden.“

Sein Gesicht spricht, ohne zu reden. Es sagt einfach nur den Satz: „Ich bin glücklich!“

Die Trainingsjacke hat der 24-Jährige, der in Unterhaching aufgewachsen ist, hoch geschlossen. Es hat vor Olympia zuviel Theater um seine Tätowierung gegeben. In einer zweieinhalbstündigen Prozedur hatte er sich erst im Mai quer über die Brust mit dunkler Tinte den Satz stechen lassen: „Pain is temporary – Pride is forever.“ Der Schmerz vergeht - der Stolz bleibt für immer.

Tönung und Puder für die Brust

Er hatte damals nicht geahnt, dass Sätze so schnell wahr werden können. „Ich hab’ mir damals das erste Kosmetik-Zeugs meines Lebens gekauft“, erzählt er. Abdeck-Tönung und Puder, denn er hatte übersehen, dass der Schriftzug aus den Rändern des Trikots hervorlugte. Auch vor dem Mehrkampf-Finale hatte er den Satz noch überdeckt. Dafür gibt es nun keinen Grund mehr.

Denn einen besseren Wettkampf kann ein Turner nicht in die Halle zaubern. Nach seinem ersten von sechs Geräten des Mehrkampf, dem Seitpferd, ist Nguyen nur auf Platz 24, in anderen Worten: Letzter! Er denkt: „Ach du Scheiße!“ Und er schaltet um. Früher hatte der Barren-Europameister ein Problem: Er resignierte schnell und ließ sich in sein Phlegma fallen. Eine Eigenschaft, die er sich mit seinem Trainer Valerie Belenki abgewöhnt hat. Es soll dabei Brüll-Attacken gegeben haben. Belenki schweigt zu dem Thema.

Nach dem Seitpferd hat Nguyen nichts mehr zu verlieren. Er muss an die Ringe. Vor Olympia hat er mit dem Kölner Fotografen Gregor Hübl sein sensationelles Foto gestellt: Beide haben die Ringe an einem Baukran montiert, es sieht auf dem Foto aus, als turne der 24-Jährige seine Kür über dem Nichts.

Turnen aus dem Poesie-Album

Er ruft diesen Automatismus in London wieder ab. Er bleibt auch beim Sprung fehlerlos, und am Barren zeigt er Turnen aus dem Poesie-Album. Es ist sein Lieblingsgerät, er beherrscht als einer den wenigen Menschen der Welt den Tsukahara-Abgang: Die Jury gibt ihm dafür eine 15,833, Nguyen ist nach vier Geräten auf Platz drei angekommen.

Hambüchens Absturz

Fabian Hambüchen erlebte in London einen schwarzen Olympia-Mehrkampf. Der frühere Reck-Weltmeister landete mit 87,765 Punkten nur auf dem 15. Platz. Nachdem die Jury im zweiten von sechs Durchgängen seinen Protest gegen die Seitpferd-Wertung abgelehnt hatte, lief bei dem 24-Jährigen gar nichts mehr.

Die Chinesen haben es erst gar nicht ins Finale geschafft, aber nebenan turnen die Japaner, als kümmerten sie keine Regeln dieser Welt. Wahrscheinlich fahren sie in London mit dem Auto auch auf der rechten Seite und fragen: Ordnung? Schwerkraft? Was ist das?

Der dreimalige Mehrkampf-Weltmeister Kohei Uchimura zieht unaufhaltsam davon. Er ist anders als Nguyen, er achtet nicht so sehr auf das Bild, das er nach außen abgibt. Seine Achselhaare sind die buschigsten Achselhaare von ganz Olympia. Uchimura ist es egal, er fliegt mit 92,690 Punkten nach sechs Geräten zum Gold.

Rundherum explodiert die Stimmung

Kazuhito Tanaka, der zweite Japaner, fällt im letzten Durchgang vom Seitpferd. Nguyen macht sich Minuten später als letzter Turner des Abends für seine Boden-Übung bereit, rundherum explodiert die Stimmung. Der Weg zur Silber steht ihm offen. Eigentlich müssten sich seine Nerven jetzt anfühlen, als ginge er zu den Krokodilen ins Wasser. Aber er sagt eine halbe Stunde später: „Ich habe den Lärm der Menschen mitgekriegt, aber das hat mich alles nicht gestört. Ich bin raus gegangen und habe meine Übung geturnt.“ Pause. „Mit einem ziemlich guten Ergebnis.“ Stimmt.

Die Kampfrichter geben dem Sportsoldaten eine 15,325, das reicht am Ende zu 91,031 Punkten und Silber vor dem US-Amerikaner Danell Leyva, der Bronze (90,698) gewinnt.

Körperbau als Erfolgsgeheimnis

Doch nun muss der schmale Junge schnell weg. Die Doping-Kontrolleure warten auf ihn. Während er geht, lüftet er noch ein Geheimnis seines Erfolges: Sein geringes Körpergewicht. Durch weniger Masse kann er an vielen Geräten schneller drehen als die Muskelprotze. „Der Körperbau ist ein Vorteil, den ich von meinem Vater mitbekommen habe“, sagt er. Sein Vater stammt aus Vietnam.

Dann muss Nguyen aber wirklich gehen. Seine Trainingsjacke hat sich ein Stück geöffnet, man sieht einen Teil der Tätowierung: Pride ist forever – der Stolz bleibt für ewig.