Witten. Marvin Pluck vom SV Herbede spricht im Interview über seine Gefühle, seine Rassismus-Erfahrungen und tief sitzende Narben
Mit seinem ganzen Gewicht drückt Derek Chauvin sein linkes Knie auf den Nacken des am Boden liegenden Afroamerikaners. So lange, bis dieser nicht mehr atmen kann, so lange, bis dieser in Ohnmacht fällt, so lange, bis dieser stirbt - insgesamt sieben Minuten und 46 Sekunden lang. Es ist der 25. Mai 2020 in Minneapolis, USA, gegen 20.30 Uhr Ortszeit. Es ist der Tag des Todes von George Floyd.
Was folgt, sind Demonstrationen, Ausschreitungen und Wut. Wut über den grassierenden Rassismus in der Gesellschaft, Wut über die Ungleichbehandlung, Wut über das Tötungsdelikt. Zunächst nur in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo Präsident Donald Trump in 40 Städten mit Ausgangssperren reagiert. Später verteilt über die ganze Welt, auch in Dortmund, Düsseldorf und Köln. Immer mit einer Message: Black Lives Matter.
Mittendrin bei der Demonstration am 6. Juni in der größten Stadt Nordrhein-Westfalens ist auch Marvin Pluck, Fußballspieler vom SV Herbede aus Witten, 31 Jahre alt.
Marvin Pluck, Sie waren auf der Black-Lives-Matter-Demonstration in Köln. Wie haben Sie den Tag wahrgenommen?
Es war super emotional. Das Thema Rassismus war nach dem Tod von George Floyd medial sehr präsent und hat mich berührt, weil es ein Thema ist, mit dem ich aufgewachsen bin, dass ich aber oft unterdrückt habe, um es nicht so sehr an mich heranzulassen. Aber als es dann so präsent wurde, habe ich gemerkt, dass es etwas mit mir macht. Ich war sehr nachdenklich und emotional.
An dem Tag gingen die Leute unter anderem in Dortmund, Düsseldorf und Köln auf die Straße. Die drei größten Städte des Bundeslandes solidarisierten sich gegen Rassismus.
Ja, es war eine Riesen-Nummer. Ich bin mit meiner ganzen Familie hingefahren und habe meinem Vater, der aus Guyana in Südamerika kommt, angesehen, dass es in ihm arbeitet. Wenn du das Gleiche thematisieren musst, wie früher und deine Kinder dabei hast, ist das emotional. Aber ich habe mich an dem Tag super gefreut über den Support und die Leute, die da waren. Es waren Personen aus der Mitte der Gesellschaft. Es war ein bunter Haufen und auch viele Deutsche. Und das ist der Unterschied zu früher: Dass die Gesellschaft so aufgeklärt ist und sagt, dass alle im gleichen Boot sitzen und alle gleich behandelt werden sollen. Sie haben sich gedacht, dass etwas passieren muss, und wollten darauf aufmerksam machen. Ich glaube, das ist gelungen.
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Wie haben Sie den Fall George Floyd wahrgenommen. Haben Sie sich das Video komplett angeschaut?
Nein, nur zur Hälfte. Ich will es gar nicht so lange sehen, das will ja niemand. Es ist katastrophal, was will man dazu sagen? Aber ich habe nach dem Fall mit einem Kumpel aus New Jersey gesprochen.
Was hat er berichtet?
Er hatte Angst. Wenn du mit einem guten Bekannten telefonierst und der hat nicht nur ein bisschen Angst, sondern richtige Angst, dann weißt du schon, was da los ist. Die Umstände in den USA sind noch einmal härter als bei uns. Ich war auch schonmal dort und habe es mitbekommen, das kann man sich nicht vorstellen. Das Ganze ist so tief verankert, es ist schwierig und wird ein langer Weg, bis wir es bekämpft haben.
Es ist aber nicht nur in den USA ein Problem. Was haben Sie selbst in Deutschland schon erlebt?
Ich habe es in der Gesellschaft immer wieder mitbekommen. Ich bin komplett integriert, habe einen bunt gemischten Freundeskreis und auch sehr viel deutsche Freunde. Aber wenn einer nicht reingekommen ist, als wir mit 18, 19 feiern gehen wollten, dann war ich das. Und das macht etwas mit einem. Es war für mich die Message, dass ich unter der Woche gut genug bin, um dabei zu sein. Wenn es am Wochenende aber darum geht, Spaß zu haben, bin ich raus. Das ist etwas, was ich sehr, sehr lange weggeschoben habe, was ich früher als normal aufgefasst habe. Aber heute kann ich sagen, dass es Narben hinterlässt. Es sind viele kleine Mikronarben, die sich sammeln und das ist dann auch nicht gut für die Psyche. Wenn du das Gefühl hast, du musst immer etwas draufsetzen, um gesellschaftlich anerkannt zu werden, ist das hart.
Und auf dem Fußballplatz?
Wenn du dich auf dem Fußballplatz in die Haare bekommst, dann beleidigst du auch mal wen. Da habe ich auch kein Problem mit. Aber wenn dann diese Stereotypen kommen wie beispielsweise ‘hey du Nigga’ - wie es von den Zuschauern aber auch von Gegenspielern schon vorgekommen ist - sind wir bei einer Rassenklassifizierung. Es wäre schöner, wenn man auch mich beleidigen kann, ohne das Wort ‘Nigga’ zu benutzen. Wenn ich in dem Moment ein Arschloch bin, kann man mir das auch so sagen.
Erinnern Sie sich an den ersten Moment in ihrem Leben, an dem Sie das Gefühl bekommen haben, dass Sie anders aussehen?
Ich erinnere mich daran, dass meine zwei Geschwister und ich mit meiner Mutter, die Türkin und weiß ist, in die Türkei gefahren sind. Dort sollte meine Mutter uns ausweisen. Und die Beamten wollten erst nicht glauben, dass wir ihre Kinder sind, weil wir schwarz sind.
Sie selbst benutzen das Wort „schwarz“. Im Englischen gibt es den Begriff „People of color“ für alle nicht-weißen Personen, die Rassismus ausgesetzt sind. In der deutschen Sprache gibt es so einen Terminus nicht. Würden Sie sich wünschen, dass der Begriff auch hier übernommen wird?
Nein, ich würde diese Unterscheidung gar nicht vornehmen. Für mich ist interessant, dass es ein Mensch ist. People of color ist für mich ein Zusatz, den es in einer wirklich offenen Gesellschaft gar nicht bräuchte. Weil es da egal ist, wo man herkommt, weil da nur der Charakter zählt und nicht die Hautfarbe. Und wenn Sie selbst merken, dass ich das Wort „schwarz“ benutze, merken Sie, wie tief das verwurzelt ist, weil ich selbst so aufgewachsen bin.
Wo sehen Sie den Ursprung dieses Problems?
Ich glaube, der ist systematisch. Wir haben zum Beispiel früher im Geschichtsunterricht nie über Sklaverei gesprochen und darüber, dass das ein Unding war. Ich denke, du musst bei den Kids anfangen aufzuklären, dass es nur eine Rasse gibt und das ist der Mensch. Und in dem Moment, in dem du einen Menschen vor dir hast, hast du ihn mit Respekt zu behandeln. So wie du auch selbst behandelt werden möchtest. Man kann auch nebeneinander mit verschiedenen Kulturen Spaß haben. Davon lebt unsere Gesellschaft ja. Ich glaube, es ist ein Thema, dass wir nur als Gesellschaft insgesamt regeln können. Zum Beispiel mag ich auch nicht den Begriff ‘Deutscher mit Migrationshintergrund’.
Was ist die Alternative?
Ich wäre für ‘Deutscher mit Integrationshintergrund’. Denn es gehört eine Gesellschaft dazu, Leute zu integrieren. Man kann nicht sagen, kommt hierhin, aber gebt eure Kultur auf und nehmt unsere an. Und das ist dann Integration, das ist ja Schwachsinn. Man muss von links und rechts aufeinander zugehen.
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Ist das bei Ihnen passiert?
Ja, ich hatte schon immer deutsche Freunde, das war selbstverständlich für mich und für sie. Wenn das alle so gemacht hätten, dann hätten wir eine harmonischere Gesellschaft. Und genau darum geht es. Bei Black Lives Matter geht es nicht darum, jemanden etwas wegzunehmen, sondern darum, dass jeder gleich behandelt wird, dass man sich sozial zeigt und sich für alle Menschen einsetzt, egal wo sie herkommen. Wir wollen ja nicht sagen, jeder Weiße ist Rassist. Das ist völliger Quatsch. Ich würde mir einfach wünschen, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der sich jeder verantwortlich fühlt, wenn etwas nicht richtig läuft.
Was kann jeder Einzelne konkret dafür tun?
Wenn ein Bekannter - so wie es bei mir auch schon geschehen ist - Nazi geworden ist, muss ich mich selbst hinterfragen, wie das passieren konnte, wie wir ihn aus der Mitte der Gesellschaft verloren haben. Das Gleiche würde ich machen, wenn jemand Salafist wird oder sich dem IS anschließt. Wenn wir es schaffen, dass sich jeder dafür verantwortlich fühlt und nicht mit dem Finger auf andere zeigt, ist das wichtig. Wenn das passiert, sind wir auf einem guten Weg. Und ich glaube, jeder muss sich selbst hinterfragen, ob er jeden Menschen, egal wo er herkommt, welche Gesinnung er hat und wen er liebt, die gleiche Chance gibt. Wenn das jeder macht, haben wir einen besseren Ort.
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Eine verbreitete Theorie, unter anderem vom deutschen Soziologen Aladin El-Mafaalani, der an der Fachhochschule Dortmund oder der Ruhr-Universität Bochum lehrte, ist, dass es mehr Konflikte gibt, weil die Personen besser integriert sind als früher und dadurch auch mehr Mitspracherecht einfordern. Würden Sie dem mit Blick auf ihren Vater zustimmen?
Definitiv. Früher war es so, dass die Schwarzen oft für sich demonstriert haben, in den USA oder Großbritannien zum Beispiel. Sie haben es selbst gemacht und hatten dadurch nicht so viel Gehör. Heute ist es so, dass wir viel besser integriert sind. Und das wir - und das ist das Wichtigste - auch die Mitte der Gesellschaft dabei haben, wie man das bei den Demonstrationen zuletzt gesehen hat. In dem Moment, in dem sich Leute, die europäisch aussehen, mit dafür einsetzen, dass etwas passiert, bekommt man mehr Gehör. Und das ist das, was gerade passiert und hoffentlich auch noch so weitergeht.
Sie nehmen also eine Veränderung war?
Ja, die Generation Y wirkt aufgeklärter, als es meine damals war. Ich weiß noch, wie wir darum gekämpft haben, dass das Eisneger nicht mehr Eisneger heißt. Dann wurde es zu Eismohr, was immer noch politisch unkorrekt ist. Aber man hat es genommen, weil es das kleinere Übel war. Heute sind die Leute mehr aufgeklärt. Und je aufgeklärter die Leute sind, desto weniger Rassismus hast du. Klar hast du auch rechte Personen in Städten wie New York in den USA oder Dortmund, Düsseldorf und Köln. Aber die Personen, die viel mit Ausländern zu tun gehabt haben, die auch Ausländer als Freunde haben, sind auch leichter dazu zu bekommen, dass alle gleich sind. Und wenn wir es nun noch schaffen, das auch in der Schule zu thematisieren, um Aufklärung an der Basis zu leisten, dann ist das der nächste Schritt in die richtige Richtung.
Zum Abschluss: Was ist Ihre persönliche Definition von Rassismus?
In dem Moment, in dem ich für mich selbst mehr Rassen als den Menschen unterscheide, bin ich bei Rassismus. So einfach ist das.
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