Beckhausen. Das war nicht nur Handball, das war Verein!“, sagt Jürgen Kretschmann. „90 Prozent waren aus Heßler“, erzählt sein Bruder Axel in unserer Serie.
Es hat Zeiten in Gelsenkirchen gegeben, als fast jeder Stadtteil seinen eigenen Handball-Verein gehabt hat. Wie selbstverständlich. „Wir waren vergnügt, obwohl wir kein Geld hatten. Das war ‘ne schöne Zeit. Da sind wir nicht mit dem Auto, sondern mit der Straßenbahn zu den Spielen gefahren“, sagt Diethelm Kretschmann, während seine Söhne und Jürgen und Axel gerade viele Bilder begutachten – aus der guten alten Zeit des TV Heßler. Und später stellt sich heraus, dass die Rückfahrt hin und wieder auch erst einen Tag später erfolgt ist.
Ein Mannschaftsfoto liegt unter anderem auf dem Wohnzimmer-Tisch Diethelm Kretschmanns. In Schwarz und Weiß. Auf Papier. So wie früher. Irgendwann Anfang der 50er-Jahre ist dieses Bild entstanden. „Als Papa noch allein den TuS Rotthausen zusammengeschossen hat“, sagt Jürgen Kretschmann und lacht herzhaft. Es ist zu hören und spüren: Die Erinnerung sorgt automatisch für Glücksgefühle bei den Kretschmanns, die für Jürgen und Axel begonnen hat, als sie noch Kinder gewesen und von Papa Diethelm mitgenommen worden sind: zum Jahnplatz, zum Feldhandball, als der Sprungwurf erfunden worden ist.
Der 87-Jährige, der eine blaue TV-Heßler-Jacke mit der Nummer 11 trägt, ist traurig, weil es seinen Verein nicht mehr gibt. Oder genauer: weil es die Handballer seines Klubs nicht mehr gibt. Der TV Heßler nämlich, der 1884 gegründet worden ist, existiert durchaus noch. Und Jürgen Kretschmann, der 62-Jährige, ist inzwischen auch wieder Mitglied des Vereins, damit dieser „nicht untergeht“, wie er sagt. „Ich versuche, was zu machen.“ Um im Stadtteil auch ein bisschen Bürgerarbeit zu leisten. Das, was beim TVH aktuell noch übrig ist, sind eine Aerobic- und eine Gymnastik-Abteilung. „Das eine mit Musik, das andere ohne“, sagt Jürgen Kretschmann und schmunzelt.
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Dass sie im Jahr 2021 so weit zurückdenken müssen, um von ihrem Handball beim TV Heßler zu erzählen, hätten sich die Kretschmanns in den 80er-Jahren nicht vorstellen können. Überhaupt nicht. „Wir sind eigentlich richtig gut aufgestellt gewesen, wir hatten mehr als 50 Kinder und Jugendliche – von der A- bis zur E-Jugend“, erzählt Axel Kretschmann, der in der Szene besser als Acki bekannt ist. Und erfolgreich sind sie damals auch gewesen. 1986 sind sie in die Bezirksliga aufgestiegen, Vizemeister hinter dem VfL Gladbeck geworden und in der zweiten Bezirksliga-Saison im ersten Spiel gegen den PSV Gelsenkirchen „direkt verpfiffen worden“, sagt Axel Kretschmann und lacht. Später hat er dann selbst lange das PSV-Trikot getragen.
Platz bei den Olympischen Spielen
Zwei Jahre hat es den TV Heßler in der Handball-Bezirksliga gegeben, als Martin Meinberg (heute 67) dort Spielertrainer war – jener Mann also, der 1980 bei den Olympischen Winterspielen in Lake Placid Anschieber im Viererbob war und mit dem Winterberger Piloten Alois Schnorbus sowie Lothar Pongratz und Jürgen Hofmann auf dem zehnten Platz landete. „Bei Martin haben wir zum ersten Mal richtig trainiert. Körperlich hart“, sagt Axel Kretschmann. „Wir hatten ein gutes Jahr, und dann sind wir abgestiegen.“
Letztlich war das der Anfang vom Ende der Handballer des TV Heßler, deren Heimat zunächst die Sporthalle am Schürenkamp und später die der Gesamtschule Berger Feld gewesen war. Der Versuch, im Jahr 1990 mit einer Spielgemeinschaft etwas zu retten, scheiterte. Die HSG Ückendorf/Heßler verschwand sehr schnell wieder von der Handball-Bildfläche.
Davor lagen allerdings zahlreiche schöne Handball-Jahre. Sehr viele sogar. „1971 waren wir D-Jugend-Stadtmeister“, erinnert sich Jürgen Kretschmann. Oder ein Sommer in den 70er-Jahren in Italien: Die Heßleraner waren in den Abruzzen und haben nicht in einer Halle oder auf dem Feld, sondern auf dem Marktplatz von Teramo gespielt. Die Bilder, die es davon gibt, sind herrlich. Und eines zeigt Jürgen Kretschmann als sehr agilen Torwart. „Mein Lieblingsbild“, sagt er, um etwas wehmütig fortzufahren: „Das war nicht nur Handball, das war Verein!“ Handball im Stadtteil. „90 Prozent“, sagt Axel Kretschmann, „waren aus Heßler.“
Und 1976 hatte der TVH etwas ins Leben gerufen, das fortan an jedem Heiligvormittag stattfand: Handball hinter hohen Gefängnismauern. Bis 2019. Nachdem die Sozialtherapeutische Anstalt an der Munckelstraße im September 2020 geschlossen worden ist und die Bediensteten sowie Inhaftierten nach Bochum gezogen sind, findet sich Handball im Knast aber auch nur noch im Geschichtsbuch wieder.
„Mehr als zehn Vereine und fast jede Woche ein Derby“
Nicht nur dieses tolle Projekt, auch viele Gelsenkirchener Handball-Vereine haben nur noch einen Platz im Geschichtsbuch. „Es gibt ja nur noch Schalke und Beckhausen“ sagt Axel Kretschmann. Um Widerworte gleich zu vermeiden: Der CVJM Gelsenkirchen und die DJK Schwarz-Weiß Süd haben auch noch Teams, die am Spielbetrieb teilnehmen. „Zu meiner Zeit hatten wir weit mehr als zehn Vereine und fast jede Woche ein Derby“, sagt Acki Kretschmann und meint seine gute Handball-Zeit, die mit dem letzten Spiel des PSV Gelsenkirchen 2019 vor dessen Auflösung endgültig zu Ende gegangen ist. „Du hast immer Leute getroffen, und es gab immer was zu trinken.“
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Apropos: Zu trinken gibt es auch heute noch was, mindestens zweimal im Jahr. Zwei Termine stehen fest im Kalender der ehemaligen TVH-Handballer, nämlich die Vatertags-Fahrradtour und das Weihnachtskegeln, das 2006 auch dazu führte, dass die Heßleraner auf den WM-Zug sprangen und 2007 live beim Finale und dem deutschen WM-Triumph in Köln dabei waren. Viele Vereine, wie auch eben die Handball-Abteilung des TV Heßler, sind im Laufe der Jahre kaputtgegangen – nicht aber die vielen Freundschaften.