Santo Andre. Jahrelang wurde die deutsche Nationalmannschaft für begeisternden Offensivfußball gefeiert. Bei der WM in Brasilien agiert das Team deutlich kontrollierter und weniger spielstark. In der Heimat wird das Team dafür kritisiert - von der Konkurrenz genau deswegen gefürchtet.
Nein, gemeingefährlich sehen sie nicht aus. Ganz und gar nicht. Sami Khedira spielte mit Freundin Lena Gercke eine Partie Brettschlägerball am Strand, Bastian Schweinsteiger und Sara Brandner machten in der Nähe einen kleinen Spaziergang und auch die weiteren deutschen Fußball-Nationalmannschaftsspieler unternahmen größtenteils vermutlich harmlose Dinge, während sich eine vollkommen gegenteilige Meinung über den Globus verbreitete.
Sie hatten eigentlich nur dieses Spiel gewonnen, 1:0 gegen Frankreich, und haben bei ihrem Einzug ins Halbfinale der Weltmeisterschaft von Brasilien lange, lange nicht so gut gespielt wie man es von dieser Mannschaft weit vor dem Turnier schon gesehen hatte. Trotzdem – oder wahrscheinlich gerade deshalb - macht sich außerhalb der eigenen Staatsgrenzen ein alt bekanntes Gefühl breit. „Deutschland beginnt, bedrohlich zu wirken. Das ist das Ding mit ihnen und dem Turnier. Das passiert eigentlich immer", stellte die englische Zeitung Daily Mirror beinahe resignierend fest. Und die italienische La Repubblica meinte: "Das übliche Deutschland in der Version Serienkiller versenkt Frankreich. In Rio bestätigen sich die Deutschen als Mannschaft aus Stahl.“
Auch interessant
Diesem alemannischen Konstrukt konnten weder französische Fachkräfte wie Karim Benzema noch die exorbitante Hitze etwas anhaben. Die deutschen Fußballer verrichteten ihren Dienst tatsächlich wie eine weitere Auftragsarbeit, die dieses Turnier für sie bereit hielt: nicht schön, aber kampfbereit, effizient, erfolgreich. So wie man deutsche Mannschaften über Jahrzehnte wahrgenommen und im Ausland wohl eben auch fürchten gelernt hat.
Alles wie immer! Alles wie immer?
Die Deutschen sind wieder da. Zurück im urdeutschen Spielstil, zurück im elitären Zirkel der vier besten Mannschaften bei einem Turnier. Bei jeder Weltmeisterschaft dieses Jahrtausends war das der Fall, zum großen Titel reichte es indes nie. Zweiter 2002, Dritter 2006, Dritter 2010. Hinzu kommen die Europameisterschaften von 2012 (Halbfinale) und 2008 (Finale). Es ist eine beeindruckende Bilanz, die keine andere Mannschaft je aufweisen konnte. Es ist eine erfolgreiche deutsche Ära, der die Blattgoldverzierung allerdings fehlt. „Wir waren bei den letzten fünf Turnieren unter den letzten Vier. Jetzt wollen wir im Halbfinale den nächsten Schritt machen", verkündete Bundestrainer Joachim Löw mit Überzeugung. Alles wie immer! Alles wie immer?
Deutschland im WM-Halbfinale
Mitnichten. Eigentlich ist nichts wie immer. Löw ging Risiko in Rio, er warf vor dem Viertelfinale die halbe Mannschaft um, wie er es in ähnlicher Weise nur vor dem verlorenen EM-Halbfinale 2008 getan hatte. Nur dieses Mal mit Erfolg. Löw rückte gar von Grundsatzentscheidungen ab. Er sagte noch vor wenigen Tage: Lahm spielt in der Mitte bis zum Schluss. Philipp Lahm spielte rechts, nicht im Mittelfeld. Er sagte, Schweinsteiger und Khedira zusammen aufzubieten sei ein Risiko, weil beide verletzt waren und ihnen Kräfte fehlten. Schweinsteiger und Khedira liefen von Beginn an gemeinsam auf.
Alles fügt sich wie von Wunderhand zusammen
Geradlinig ist das nicht, eher chaotisch, manchmal sogar auf dem Platz wie gegen Algerien. Aber nun, da am Dienstag das übergroße Halbfinale gegen Gastgeber Brasilien ansteht, fügt sich alles wie von Wunderhand irgendwie zusammen. Jahrelang wurde die Mannschaft für ihre begeisternden Auftritte gefeiert – und scheiterte. Nun manövriert sie sich wie ein schwerer Frachter durch den Amazonas, steckte Kritik gerade in der Heimat ein, wird aber wegen ihrer Präzisionsarbeit im Rest der Welt mehr als nur respektiert, eher gefürchtet. „Der Gegner hatte höchste Qualität“, sagte Frankreichs Trainer Didier Deschamps anerkennend.
Auch interessant
Es ist eine feine Pointe, dass nun auch eine Sache, der der Bundestrainer stets weniger Aufmerksamkeit zubilligte, den entscheidenden Unterschied bei diesem Turnier auszumachen droht. Standardsituationen gehörten nie zu Löws Liebschaften im Reich des Fußballs. Er, der das Schöne so mag, wollte seine Spiele lieber nicht gewinnen, indem Eckstöße ins Tor gewurschtelt werden. Co-Trainer Hansi Flick war stets anderer Meinung. Dieses Mal wurde Übungszeit auf Freistöße und Ecken verwendet. Mit Erfolg: Vier von zehn deutschen Treffern bei diesem Turnier fielen im Anschluss an eine Ecke oder einen Freistoß - meist getreten von Toni Kroos. Gegen Frankreich hebelte Mats Hummels den Sieg mit einem Kopfball herbei in einem Spiel, das auf des Messers Schneide stand.
2006 und 2010 im Halbfinale gescheitert
So ist das ja meistens in dieser entscheidenden Phase des Turniers, wenn sich die Weltmächte dieses Sports auf Augenhöhe duellieren. Wer wüsste das besser als Deutschland? 2006 und 2010 scheiterte das Team jeweils im WM-Halbfinale. Fabio Grosso steht für die Tränen in Dortmund. Der italienische Abwehrmann traf nach einer Ecke. Spät und entscheidend. Carles Puyol steht für die Trauer von Durban. Der spanische Abwehrmann erzielte den einzigen Treffer per Kopf nach einer Ecke.
Alles, alles soll 2014 anders sein. Da schadet es nicht, ein wenig bedrohlich zu wirken.