Santo André. Zum sechsten Mal in sieben großen Turnieren steht Deutschland im Halbfinale. Diesmal kann es in Brasilien wirklich für den sehnsüchtig erwarteten Weltmeistertitel reichen. Denn die Nationalelf um Bundestrainer Joachim Löw hat sie wiederentdeckt. Die Kraft der Vergangenheit. Und mehr.
Die Vergangenheit reist immer mit bei der deutschen Nationalmannschaft. Denn ihr werden übersinnliche Kräfte zugetraut. Sie soll, so lautet der Plan, irgendwo beim lieben Gott oder anderen einflussreichen Mächten des Universums ein gutes Wort dafür einlegen, dass auch die Zukunft rosig aussehen wird.
Beim Viertelfinalsieg gegen Frankreich und dem Einzug ins Halbfinale gegen den WM-Gastgeber Brasilien hing die Vergangenheit wieder in der deutschen Kabine – ein schnödes, weißes DFB-Trikot. Auf ihm haben sich vor der Abreise nach Brasilien knapp 30 deutsche Weltmeister von 1954, ’74 und ’90 mit Filzstiften verewigt – darunter Horst Eckel, Franz Beckenbauer und Lothar Matthäus. Ein Talisman soll es sein, vielleicht auch so etwas wie eine Ahnengalerie in handlichem Reiseformat. Für das Team aber hat es mittlerweile schon aus Aberglaube Bedeutung: „Ich hoffe, dass es uns Glück und Kraft verleiht“, sagte Teammanager Oliver Bierhoff nach dem 1:0 gegen Frankreich.
Deutsche Nationalelf glaubt an den WM-Titel
Gegen die Equipe Tricolore hat das Weltmeistertrikot jedenfalls ganze Arbeit geleistet. Ein bisschen Glück, vor allem aber jede Menge Kraft in der drückenden Hitze des Maracana musste es an das Team von Bundestrainer Joachim Löw ausschütten. „Einige Spieler sind jetzt sensationell platt“, berichtete Per Mertesacker. Gelohnt aber hat sich der Aufwand: Zum sechsten Mal im siebten Turnier seit der WM 2002 steht Deutschland in einem Halbfinale. Keine andere Nation spielt konstanter auf hohem Niveau.
Doch unangenehmer Weise ist aus der abonnierten Präsenz in der Weltspitze in den vergangenen zwölf Jahren nie ein Titel erwachsen. Zwei Mal scheiterte die deutsche Elf im Finale (WM 2002 und EM 2008), drei Mal war im Halbfinale Schluss (WM 2006 und 2010, EM 2012). Jetzt wolle das Team endlich den finalen Schritt, sagte Kapitän Philipp Lahm. „Der Glaube daran ist da“.
DFB-Spieler geben sich auch mit Wasserträger-Rolle zufrieden
Dass es diesmal tatsächlich klappen kann, hat wiederum auch mit der Vergangenheit zutun. Sie hat sich nämlich nicht nur in Form des Weltmeistertrikots in die Kabine der deutschen Mannschaft geschlichen, sondern auch in ihr Spiel. Die in früheren Tagen oft besungenen, zuletzt aber etwas belächelten deutschen Tugenden wie Teamgeist, defensive Ordnung und der Punch im entscheidenden Moment haben diese keineswegs glänzend aufspielende Mannschaft durch das Turnier getragen und geben Hoffnung, dass sie am Ende tatsächlich mit dem Weltpokal heimkehren kann.
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Gegen Frankreich saß Mertesacker überraschend auf der Ersatzbank. Doch anstatt zu schmollen, entschied er sich, das Unterfangen von außen zu unterstützen. Auffällig oft sprang er von der Bank auf, reichte den Kollegen auf dem Feld Getränke und feuerte sie an. „Ich war diesmal als Wasserträger aktiv“, sagte der 29-Jährige und gab zu, dass ihn Löws Entscheidung getroffen habe. Dadurch aber habe er eine andere Perspektive gehabt – die von draußen nämlich –, „und es hat mich verblüfft, wie die allgemeine Stimmung im Hintergrund ist, wie jeder für jeden da ist“, sagte Mertesacker. „Man wird nicht nur Weltmeister auf dem Platz, sondern auch auf der Bank. Darin liegt die wahre Stärke einer Mannschaft, und die haben wir“, sagte er.
Die deutsche "Art Fußball" ist derzeit vielversprechend
Schon vor dem Viertelfinale hieß es, dass der Teamgeist ein viel besserer sei als noch bei der EM 2012, als es Reiberein zwischen Dortmundern und Bayern gab. Nun bewies sich das. „Wenn wir diesen Zusammenhalt konservieren“, sagte Mertesacker, „dann haben wir auch eine Chance auf den Titel“.
Löw-TaktikTugend Nummer zwei trat gegen Frankreich deutlicher in Erscheinung als zuvor: defensive Ordnung. Der bekennende Liebhaber des Angriffsfußballs Löw hat seiner Mannschaft für dieses Weltturnier eine neuerliche defensive Stabilität eingeimpft. Hatte sein Team seit der WM 2010 in 49 Länderspielen beunruhigende 60 Gegentore gegen mitunter auch wenig namenhafte Kontrahenten zugelassen, ist es nun in drei von fünf WM-Spielen ohne Gegentor geblieben. „Ich glaube, dass wir mit dieser Art Fußball zu spielen eine Chance haben, Weltmeister zu werden“, sagte Innenverteidiger und Siegtorschütze Mats Hummels. „Mit zwei Gegentoren im Schnitt wird man das nicht.“
Dass dies gegen Frankreich vornehmlich mit der Rückversetzung Lahms in die Viererkette zutun hatte, mag mancher behaupten. Den Reaktionen der Spieler nach zu urteilen, scheint sich auch das Team selbst mit dieser Variante wohler zu fühlen und Lahm auf rechts somit auch für das Halbfinale denkbar zu sein.Grundsätzlich aber lag es daran, dass die deutsche Auswahl auch im alten 4-2-3-1-System defensiv diszipliniert auftrat.
"Brutale Stärke bei Standards"
Tugend Nummer drei aus der Mottenkiste der Vergangenheit ist die größte Überraschung bei diesem Turnier: die Fähigkeit, auch in Phasen spielerischer Armut durch Standardsituationen den entscheidenden Punch zu haben. Sie waren in früheren Tagen eine Spezialwaffe deutscher Mannschaften, doch Löw hatte sie bei den Turnieren 2010 und 2012 aus Zeitgründen vernachlässigt, was zu einer Harmlosigkeit bei ruhenden Bällen führte.
Das hat sich nun geändert. Zählt man den Elfmeter von Thomas Müller gegen Portugal mit, dann fielen vier von zehn Turniertoren durch oder nach Standards. Und lässt man auch Müllers 1:0 gegen die USA in dieser Wertung gelten, das ebenfalls im Anschluss einer Ecke fiel, kommt man gar auf die Hälfte aller Treffer nach ruhenden Bällen.„Wir haben das sehr, sehr viel geübt“, erklärte Kroos. Von seiner knappen Trainingszeit hat Löw diesmal einen Teil für Standards ausgegeben, weil die Analyse des Confed-Cups 2013 ergab, dass dies unter schwierigen äußeren Bedingungen ein probates Mittel ist. „Wir haben jetzt eine brutale Stärke bei Standards“, befand Miroslav Klose, der ja alle sieben Turniere aktiv miterlebt hat.
Die Kraft der Vergangenheit führt zum Titel
Bisher reichte es für Klose und Co.nie für den Titel, und im Halbfinale stellt sich der Gastgeber Brasilien in den Weg: „Da spielt man gegen ein ganzes Stadion, gegen ein ganzes Land“, sagte Kroos. Doch weil das deutsche Team gereift ist und nun auch noch die Kraft der Vergangenheit wiederentdeckt hat, ist der WM-Sieg für Löws Spieler diesmal tatsächlich greifbar. Gelingt ihnen das, könnten auch sie sich auf dem Weltmeistertrikot verewigen.