São Paulo. . Noch nie hatten die “Three Lions“ ihre ersten beiden Gruppenspiele bei einer Weltmeisterschaft verloren, doch gegen Uruguay scheiterte England nicht nur am Premier-League-Torschützenkönig Luis Suárez, sondern auch an sich selbst. “Unsere Chancen sind unglaublich winzig”, sagt Trainer Hodgson.
“Ich darf nichts sagen”, sagte Jordan Henderson. Wer sich wo und wann nach wichtigen Spielen (sprich: Niederlagen) äußert, ist bei den Engländern eine streng reglementierte Prozedur. Es soll verhindert werden, dass sich der eine oder andere zu unbedachten, schlagzeilenträchtigen Gedanken hinreißen lässt; auch auf die Gefahr hin, dass so das Denken an sich etwas zu kurz kommen könnte. Die hermetische Abschirmung der Elf mit den “drei Löwen” von allen die Ruhe störenden, Dissonanzen aufwerfenden Einflüssen abseits des Rasen mag eine der Gründe sein, warum die Spieler, gut bezahlt und der heimischen Liga durchaus stressresistent, alle zwei Jahre neue Wege finden, sich von unvorhergesehen Situationen in exotischen Gefilden aus dem Gleichgewicht bringen zu lassen.
“Unsere Chancen sind unglaublich winzig”
Kapitän Steven Gerrard aber sprach nach dem 1:2 gegen Uruguay, er musste es tun. Zunächst ging es um die schrecklichen Gefühle, um den Frust, nach zwei im Grunde ansehnlich bestrittenen Partien nicht mehr als mit “einem Strohhalm in der Hand” dazustehen. Theoretisch bestand Donnerstagnacht noch die verdammt vage Aussicht, mit Hilfe der Azzurri die Qualifikation fürs Achtelfinale zu schaffen; auf so ein blaues Wunder vertrauen zu müssen, fiel den Engländern jedoch so schwer, dass sie sich lieber vorzeitig aus dem Turnier verabschiedeten. “Unsere Chancen sind unglaublich winzig”, sagte der stark angefasste Trainer Roy Hodgson, “wir hätten einen Sieg oder ein Unterschieden gebraucht, um weiter zu kommen. Beides haben wir nicht bekommen”.
Eine englische Mannschaft hatte zuvor noch nie die ersten zwei Partien bei einer Weltmeisterschaft verloren. Gerrard schien die historische Dimension der Enttäuschung bewusst zu sein, es war nicht die erste für ihn in in diesem Jahr. Die 34-Jährige Ikone des FC Liverpool kostete die Reds mit einem Ausrutscher gegen Chelsea die erste Meisterschaft seit 24 Jahren, hier kam er vor dem 0:1 (Suárez, 39.) in einem Zweikampf an der Mittellinie zu spät und leitete fünf Minuten vor Ende der Partie er mit einem misslungenen Kopfball unfreiwillig den zweiten Treffer seines Klubkameraden vor.
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Dass ausgerechnet der auf der Insel beschäftigte Suárez die Engländer bis vor einen Millimeter vor den Abgrund bugsierte, war keineswegs überraschend (“wenn man Weltklassestürmern wie ihm Chancen gibt, dann treffen sie, wir wussten das”, sagte Gerrard) und besaß zugleich eine tiefere Logik. Das international geliebte Produkt Premier League holt sich die besten Spieler und Trainer der Welt ins Land, doch diese unterhalten auf Kosten der Einheimischen. Stammplätze in Spitzenvereinen sind für Hodgsons Leute rar gesät. Verschärft wird die Misere, weil zwar die gute Technik der Ausländer abfärbt, aber nicht deren theoretisches Know-how - die Fähigkeit, eigenmächtig auf dem Platz auf Veränderungen zu reagieren. Italien und Uruguay waren gegen England individuell und kollektiv nur in Nuancen besser, aber die beiden Sieger verstanden es, Spieltempo und Ausrichtung fortwährend zu justieren. Hodgsons England dagegen blieb ganz jenem Draufgängertum verhaftet, das man sich für Brasilien in Großbuchstaben auf die Fahnen geschrieben hatte. “Having a go” (Versuchen wir es) , lautete das von der Presse unkritisch umjubelte Angriffsmotto. England versuchte es, so lange und unaufhörlich, bis aus “having a go” im nasskalten São Paulo “have to go” wurde.
“Wir waren nach dem Ausgleich nicht clever, nicht abgeklärt genug”, brachte es Gerrard auf den Punkt, “wir wollten den Schwung nutzen, wir hatten das Gefühl, dass die Uruguayer wankten”. Der Eindruck trügte nicht, nach Wayne Rooneys 1:1 (75.), seinem ersten WM-Treffer. Aber in dem Schwung schwang auch viel Naivität mit, die von raffinierten, von den Launen des Fußball und vom Leben selbst abgehärteten Südamerikaner bestraft wurde.
Nächster Kurswechsel - mit Hodgson?
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Insgesamt hatte England mit seinem 4-2-3-1-System mit vier exklusiv offensiv agierenden Spielern nie die vollständige Kontrolle über das Geschehen im Turnier. Die Spiele gestalteten sich wie ein Shoot-Out im Wilden Westen, es ging nur darum, wer öfters getroffen wurde. Einen Reporter erinnerte diese Attitüde an Englands Kamikazeauftritt gegen Deutschland in Bloemfontein vor vier Jahren (1:4). “Die Lernkurve war hier sehr steil für uns”, entgegnete Gerrard, und er meinte: zu steil. England, das ist sein eigentliches Schicksal, lernt nicht aus seinen Problemen, es bekämpft sie mit maßloser undurchdachten Vehemenz. Wie ein Raucher, der sich um das Paffen abzugewöhnen zur Flasche greift.
Auf Reaktion auf die WM 2010 hatte Hodgson dem Team bei der EM eine radikale Defensivtaktik verschrieben, die das Publikum verstörte. In Brasilien ließ sich 66-Jährige unter dem Einfluss der Öffentlichkeit auf ein Vabanque-Spiel mit international unerfahrenen Talenten ein. England verlor so wieder auf urenglische Weise - wenn auch nicht im Elfmeterschießen - und Hodgson kann sich für die EM in zwei Jahren gleich wieder den nächsten abrupten Kurswechsel ausdenken. Wenn man ihn denn lässt.