Santo André. Bundestrainer Joachim Löw verändert für das Auftaktspiel am Montag gegen Portugal seine WM-Taktik und lässt Philipp Lahm im Mittelfeld spielen - was dazu führen kann, dass sich Bastian Schweinsteiger oder Sami Khedira auf der Ersatzbank wiederfinden.
Philipp Lahm wird es im Lager der deutschen Nationalmannschaft in Santo André ziemlich bequem gemacht. Zwar muss sich auch der Kapitän des Teams mit dem Umstand arrangieren, dass man im Campo Bahia in studentischen Verhältnissen lebt – je sechs Spieler teilen sich einen Bungalow. Doch dem 30-Jährigen kommen natürliche Privilegien zuteil: Ob er sich, so als Häuptling, denn wenigsten von den anderen fünf Kameraden in der Wohngemeinschaft ein bisschen was hinterher tragen lasse, wurde Lahm gefragt: Der grinste lausbubenhaft: „Sie müssen vielleicht mal mein Bett machen und mich beim Billard bespaßen. Aber sonst bin ich da eigentlich ganz pflegeleicht.“
Bundestrainer Joachim Löw hat sich dennoch entschieden, es seinem Spielführer für diese Weltmeisterschaft so angenehm wie möglich zu machen. Dazu gehört vor allem die klar definierte Aufgabenbeschreibung, die er Lahm für das Turnier mit auf den Weg gibt. Bei seinem Vereinstrainer Pep Guardiola vom FC Bayern wurde Lahm in der abgelaufenen Bundesligasaison des Öfteren über das Feld verschoben. Mal spielte er rechts in der Viererkette, was er in gewohnter Weltklassemanier absolvierte. Mal im defensiven, zentralen Mittelfeld vor der Abwehr. Weltklasse auch dort, natürlich.
Kleine, aber entscheidende Veränderung
So richtig geschmeckt hat Lahm die permanente Entwurzelung aber offenbar nicht. Zwar benötige er höchsten fünf bis zehn Minuten, um sich von der einen auf die andere Position umzugewöhnen, sagt Lahm. Aber in Santo André wiederholte der Münchner noch einmal, dass er davon ausgehe, bei der WM nun endgültig im Mittelfeld eingeplant zu werden.
Löw hat das registriert und legte sich am Donnerstag fest: „Philipp hat beim letzten Test gegen Armenien im Mittelfeld gespielt. Ich bin ziemlich sicher, dass er das auch am Montag gegen Portugal tun wird“, sagte Löw. Lahms Wunsch nach einer dauerhaften Versetzung in die Zentrale ist ganz im Sinne des Bundestrainers. Lange hatte der 54-Jährige darüber gegrübelt, wie es in Brasilien – unter den schwierigen klimatischen Bedingungen insbesondere – gelingen kann, den ersten WM-Titel seit 24 Jahren zu gewinnen. Herausgekommen ist dabei eine kleine, aber entscheidende Veränderung seiner Taktik.
Noch bei der WM 2010 in Südafrika und bei der EM 2012 in Polen und der Ukraine ließ er sein Team in einem 4-2-3-1-System auflaufen – mit zwei defensiven Mittelfeldspielern auf der „Doppelsechs“ (Sami Khedira und Bastian Schweinsteiger), einem klassischen Spielmacher auf der „Zehn“ (Mesut Özil) und nur einem einzigen Stürmer (Miroslav Klose bzw. Mario Gomez). Das war „State of the Art“ zu jener Zeit und wurde von den allermeisten großen Mannschaften gespielt. Bis auf Italien natürlich, das vor zwei Jahren mit zwei Stürmern antrat und sich im Halbfinale für die deutsche Auswahl als zu groß erwies.
Ein 4-3-3 gegen Portugal
Für dieses Turnier aber, das am Montag für die Löws Team mit dem ersten Gruppenspiel gegen Portugal in Salvador beginnt, hat sich der Schwarzwälder eine andere Variante erdacht: Er wird ein 4-3-3-System spielen lassen. Die klassische Doppelsechs verschwindet im Mittelfeld und an ihre Stelle tritt ein Trio aus flexibel agierenden Ballverteilern. „Versetzt im Mittelfeld“, nennt Löw das. Einen reinen Abräumer vor der Abwehr will er nicht sehen. Das Dreiergespann soll sich variabel im Raum bewegen, den Herzschlag des Spiels vorgeben und gern auch immer mal wieder die Positionen tauschen.
Löw kommt Bayern-Trainer Guardiolas Idee ziemlich nahe
Damit kommt der Bundestrainer der Linie Guardiolas ziemlich nahe – seinem Bruder im Geiste, was die Liebe zum schönen Spiel betrifft. Auch der Spanier hatte in München stets ein variables, zentrales Mittelfeld aufgestellt, das für den Ballbesitz-orientierten Fußball der Bayern am ergiebigsten war. Lahm – klein, wendig und nahezu fehlerfrei im Passspiel – erwies sich für diesen Kombinationsstil als perfekter Athlet vor der Abwehr.
Löw allerdings plant keine Kopie des Guardiolafußballs bajuwarischer Prägung – trotz des massiven Bayernblocks aus sieben Münchnern in seinem Team. Um sich in drückender Hitze und unter dem Einfluss der hohen Luftfeuchtigkeit in Brasilien bis ins Finale vorzuspielen, will der Bundestrainer die zwei maßgeblichen Stile in Deutschland, ja im Weltfußball überhaupt, kombinieren: den Ballbesitzfußball des FC Bayern und das schnelle Konterspiel Borussia Dortmunds – beide Teams sind ersetzbar durch den FC Barcelona und Real Madrid.
Der Bayern-Dortmund-Mix für den Titel
Die Auswertung des Confed-Cups aus dem vergangenen Jahr in Brasilien hat ergeben, dass dort die siegreiche Mannschaft einer Partie besonders in den ersten 15 Minuten über einen hohen Ballbesitzanteil verfügte. Gelang in der Anfangsphase ein frühes Tor, zogen sich die Brasilianer, Italiener und Spanier – die es alle samt mindestens bis ins Halbfinale schafften, kraftsparend auf eine kompakte Defensive zurück und verlegten sich aufs Kontern.
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Für Löw wird es darum gehen, in unterschiedlichen Phasen des Spiels unterschiedliche Manöver vorzutragen. „Wir haben die Fähigkeit, viele verschiedene Stile spielen zu können: Ballbesitz und auch mal Konterfußball“, sagt Lahm. Das besondere Merkmal seiner Mannschaft sei, dass dafür nicht einmal das Personal ausgetauscht werden müsse, „denn die gleichen Spieler können beides spielen“.
Auf Löw allerdings kommen bis zum Portugalspiel schwierige Entscheidungen zu. Denn für seine bevorzugte Mittelfeld-Variante mit drei variablen Spielern hat er mindestens fünf hochkarätige Profis im Kader, die allesamt Ansprüche auf einen Stammplatz erheben: Lahm, Khedira, Schweinsteiger, Toni Kroos und Özil.
Schweinsteiger und Khedira sind nach Verletzungen noch nicht wieder bei Hundert Prozent. Dass es Kroos treffen könnte wie noch bei der WM 2010 und EM 2012, als er zunächst nur Ergänzungsspieler war, ist unwahrscheinlich. Kroos werde „eine ganz andere Rolle als 2012 spielen“, sagte Löw. Seine Wertschätzung für den eleganten Ballverteiler, der in der Bundesliga und der Champions League der vergangenen Saison stets die allermeisten Pässe spielte, ist in den vergangenen zwei Jahren enorm gestiegen. Spielt Kroos also vor oder neben Lahm, dann bliebe noch ein einziger Platz übrig. Özil könnte auf die „Falsche Neun“ im Angriff oder die rechte Seite ausweichen, je nachdem wo Thomas Müller gebraucht wird. Das hieße: Khedira oder Schweinsteiger. Fest steht: Mindestens einen prominenten Bankangestellten wird es geben.
Löw hat "keine Stammspieler"
„Wir haben keine Stammspieler bei diesem Turnier“, betonte Löw. „Wir haben eine erste 14.“ Er wies darauf hin, dass es besonders bei diesem Turnier auf die Einwechselspieler ankommen werde. Beim Confed-Cup 2013 fielen überdurchschnittlich viele Tore in der Schlussphase der Partien, als die Erschöpfung bei den Spielern einsetzte. „Die ersten elf Spieler haben die Aufgabe, uns in eine positive Ausgangslage zu bringen“, sagte Löw. „Wenn dann nach der Halbzeitpause die zweite Phase beginnt, kommen die Ersatzspieler. Sie sind die Sondereinheit und können den Unterschied ausmachen, wenn der Gegner müde wird.“ Deshalb fordere er von jedem seiner Akteure die Bereitschaft, auch auf der Bank stets „in Alarmbereitschaft“ zu sein.
Lahm sagt, er habe das Gefühl, die Mannschaft verfüge über einen guten Teamgeist. „Aber das zeigt sich immer erst im Turnier, wenn Spieler auf der Bank sitzen, die das nicht gewohnt sind.“ Damit gemeint haben dürfte er auch Khedira und Schweinsteiger.