Rio de Janeiro. . Im Maracana-Stadion in Rio de Janeiro wird das Finale der Fußball-Weltmeisterschaft stattfinden. Dort ist es laut, leidenschaftlich - und für viele Brasilianer mittlerweile zu teuer. Früher, kurz nachdem es zur WM 1950 eröffnet wurde, pilgerten die Menschen in Scharen in das Stadion.

Sie mag über 70 Jahre alt sein, die dunkelhaarige Frau, die drei Reihen schräg vor mir sitzt. Wenn sie sitzt. Denn meistens steht sie, wie (fast) alle Flamengo-Fans in ihren rot-schwarzen Trikots im Bloco 123. Und wenn sie stehen, singen sie auch. Lauthals, leidenschaftlich. Oder sie beschimpfen mit eben diesem Enthusiasmus die Spieler des Gegners.

Wie im Augenblick des Gegentores, als aus der alten Dame eine junge Furie wird und sie - begleitet von einem gellenden Pfeifkonzert - aus ihrem Sitz empor schnellt, um ihre portugiesischen Flüche mit einem engagierten Zusammenspiel der Hände zu untermalen. Was es eben bedeutet, wenn Daumen und Zeigefinger der zur Faust geballten einen Hand in die Innenseite der anderen schlagen...

Früher eine Pilgerstätte

Willkommen im Maracanã-Stadion zu Rio de Janeiro, in dem an diesem Tag Flamengo zum Stadtderby gegen Vasco da Gama antritt. Am Sonntag, 13. Juli, werden 73 531 Zuschauer auf den in Gelb und Blau gehaltenen Sitzschalen Platz nehmen und das Finale der Weltmeisterschaft erleben, den Höhepunkt der Titelkämpfe am Zuckerhut im oft als mystisch beschriebenen Fußball-Tempel.

Aber: Lebt der Mythos Maracanã noch? Oder ist er seit dem vor gut einem Jahr beendeten jüngsten Umbau endgültig pas­sé?

Früher, kurz nachdem es zur Fußball-WM 1950 eröffnet wurde, pilgerten die Menschen in Scharen in das Stadion. Es war nicht nur eine Sportstätte, es diente Brasilien als Symbol auf dem Weg in eine demokratische Zukunft. Deshalb fanden 180 000 Zuschauer auf einem gigantischen Ober- und einem Unterrang Platz – damals war das ein Zehntel der Bevölkerung Rio de Janeiros. Jeder sollte Zugang haben, und jeder Besucher sollte gleich gut sehen können, weshalb die Arena von 10 000 Arbeitern in zwei Jahren als perfektes Rund erbaut wurde.

Das Maracanã – es ist von Beginn an ein Wahrzeichen Rio de Janeiros. Wie der Eiffelturm für Paris, wie die Freiheitsstatue für New York. Und selbst die schmerzlichste Niederlage brasilianischer Fußballer, das 1:2 vor 173 850 titelgewissen Fans gegen Uruguay am 16. Juli 1950 im entscheidenden Spiel der WM, änderte nichts an der Liebe des Volkes zu diesem Monument, das hoch oben von der Christus-Statue aussieht wie eine gelandete fliegende Untertasse.

Fußball ist teuer geworden

An diesem späten Samstagnachmittag ist das Maracanã mit gut 26 000 Zuschauern aber nicht einmal zur Hälfte gefüllt. Wer sich unter den Fans umhört, weiß schnell, warum die Fußball begeisterten Brasilianer ihrer Liebe nur noch selten live frönen: Die Preise für die Eintrittskarten schnellten in die Höhe, nachdem das Stadion privatisiert wurde. Die Klubs feilschen mit einem Betreiberkonsortium um jeden Real – die meisten Fans können sich den Eintritt dennoch nicht mehr leisten.

Aber nicht nur die Preispolitik ärgert die Anhänger quer durch Rios Klubs. In ihnen brodelt es besonders beim Blick auf die Finanzierung des zurückliegenden Umbaus vor Wut. Trotz eines Regierungsversprechens, diesen mit privatem Geld zu finanzieren, flossen fast ausschließlich Steuergelder. Und wie bei zig anderen WM-Projekten explodierten die Kosten. Aus den anfänglich veranschlagten 600 Millionen Reais wurden ca. 1,2 Milliarden Reais, was etwa 460 Millionen Euro entspricht.

Die Folgen im Volk sind offensichtlich – und spürbar. Wir passieren die Sicherheitskontrollen vor dem Stadion ebenso zügig wie in Europa. Ebenso gelingt es uns, schnell einen freien Platz zu finden, wenngleich die freie Sitzwahl etwas gewöhnungsbedürftig ist. Die Wege sind kurz, die Infrastruktur wie in einer der zig modernen Fußball-Arenen in Deutschland oder den anderen großen europäischen Ligen.

Der Mythos Maracanã? Er umgibt die Besucher – wie etwa der Mythos vom Schalker Markt durch die Gelsenkirchener Arena weht. So wie das Stadion in Dortmund einen Mythos für sich reklamiert, der auf seiner legendären Südtribüne fußt. Es ist bitter für Fußball-Romantiker, aber ihre Kultstätten unterscheiden sich nur noch in Nuancen. In der Zuschauerzahl etwa, oder in der Dezibelstärke der Fangesänge. In dieser Skala landet das Maracanã übrigens weit oben, weil es selbst mit spärlicher Besetzung auf den Tribünen brasilianische Samba-Stimmung und eine mitreißende Lautstärke erzeugt. Sie singen, die Fans. Sie trommeln oder schwenken ihre Fahnen. Alle, ob jung oder alt, ob Frau oder Mann. Alle, die sich auf den Weg ins Stadion gemacht haben.

Die Liebe ist erkaltet

Selbst an diesem Tag ist das so, obwohl sich Flamengo und Vasco da Gama einen müden Kick liefern, der mit einem 1:1 endet. Die Begeisterung für ihre Klubs tröstet viele Brasilianer darüber hinweg, dass ihre Liebe zur Nationalmannschaft abgekühlt ist. Fast alle Stars der Selecao verdienen Millionen, aber eben nicht mehr in der Heimat. „Das Nationalteam existiert für viele Brasilianer nicht“, sagt zum Beispiel der 36-jährige Reenan. Er hält auch mit seiner Meinung zum neuen Maracanã nicht hinter dem Berg: „Das Stadion ist modern, aber das Gänsehaut-Gefühl ist weg.“

Der Mythos Maracanã – er ist in der Moderne verschollen und wartet auf Wiederbelebung durch diese WM.