Rio de Janeiro.. Auch wenn sie als befriedet gilt: In der Favela „Morro dos Prazeres“ am Stadtrand von Rio de Janeiro brodelt es trotz aller Polizeipräsident nach wie vor. Eine Tour durch Rios ältestes Armenviertel rund sechs Wochen vor dem Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft.

Der Blick ist ein Traum. Ein atemberaubender, wahr gewordener Traum. Im Rücken thront von vereinzelten Wölkchen umschwirrt die Christusstatue, voraus offenbart sich in kräftigen Farben die Schönheit der Bucht von Rio de Janeiro. Samt Zuckerhut, als bedürfe es eines i-Tüpfelchens.

Fußballplatz aus Kunstrasen

Stundenlang ständen Touristen hier oben und machten unzählige Fotos von sich vor dieser Kulisse. Die unbarmherzig auf sie nieder brennende Sonne oder der gewöhnungsbedürftige Geruch, welchen ein Fußballplatz aus Kunstrasen bei dieser Hitze produziert? Egal. Beides wäre so etwas von egal.

Doch es verirren sich keine Touristen an diesen höchsten Punkt der Favela „Morro dos Prazeres“. Das älteste Armenviertel von Rio de Janeiro gilt zwar als befriedet, aber bei aller Polizeipräsenz lässt sich die Kriminalität nicht komplett vertreiben aus diesem Hütten- und Häusergewusel, durch welches sich ein für den Fremden als undurchdringbar erscheinendes Labyrinth an Gassen bergauf schlängelt.

Soziales Engagement seit 55 Jahren

Rosa Alice Picano weiß das. Natürlich. 79 Jahre alt ist die zierliche, vielleicht 1,60 Meter große Frau. Und seit 55 Jahren engagiert sie sich sozial in der Favela. Für deren Kinder. Rund 90 erhalten derzeit in der von ihr geleiteten Schule nachmittags Nachhilfe. Sie lernen Englisch, Mathematik, was eben wichtig ist, um später ein besseres Leben führen zu können.

Wer Rosa Alice kennt, der lernt auch die Favela kennen. Weil die meisten der geschätzt 2000 Bewohner sie kennen - und achten. Ob sie nun einer Arbeit außerhalb nachgehen oder nicht, ob sie kleine Kriminelle sind oder größere. Rosa Alice ist wohl so etwas wie die liebenswerte Oma von nebenan.

„Schutzengel“ für die Gäste aus Deutschland heißt Michael

Omas „Schutzengel“ für die Gäste aus Deutschland heißt Michael. Er trägt ein ärmelloses weißes T-Shirt, eine dunkelblaue Jeans und blaue Flip-Flops. Er wartet am Eingang der Favela und ist – zwölf. Direkt neben den sandfarbenen Containern, in denen die Polizei ihre Station eingerichtet hat, nimmt uns der Kleine in Empfang.

Kritische Blicke der Bewohner am „Morro dos Prazeres“

Eine enge, steile Treppe mit kunterbuntem Geländer führt hier den Berg hinauf, hinein in das Meer aus gemauerten kargen Hütten und kleinen Häusern. Der eigentliche Eingang ist ein breiter Weg vorbei an einer Art Straßencafé, dessen Wände dem Betrachter in bunter Graffiti-Schrift das portugiesische Wort „Prazeres“ entgegenwerfen. Willkommen am „Morro dos Prazeres“, dem Hügel der Freude.

Freundlich sind die Blicke der Bewohner jedoch nur bedingt, eher kritisch, fragend. Weil Michael voran hüpft, bleibt es wohl bei den Blicken. „Die Menschen sprechen sonst jeden an, der fremd ist und sagen ziemlich deutlich, dass man unerwünscht ist“, erklärt Thomas Milz, Korrespondent des ARD-Hörfunks in Brasilien, später die üblichen „Einlasskontrollen“ an den Favelas. Sie sind überall gleich. In Rio, in Sao Paulo. Zufällig in eine Favela geraten, besonders in eine unbefriedete? Es scheint fast unmöglich zu sein.

Kinder und Jugendliche spielen Fußball in den Favelas

Wir verschwinden mit den ersten Treppenstufen im Mikrokosmos der Favela. In den 1940er Jahren siedelten hier die ersten Bewohner, die in Rio de Janeiro auf ein besseres Leben als im Nordosten oder im Hinterland hofften. Sie errichteten ihre Hütten meist illegal an der Peripherie, am Berg, dort, wo niemand wohnen wollte.

Auf dem Weg zu Rosa Alices Schule gehen wir vorbei an einer Baustelle, auf der fünf, sechs junge Männer ein Haus neu mauern. Fotos? „Lieber nicht“, rät Michael. Obwohl sich die Arbeiter bereits ihre T-Shirts vor das Gesicht ziehen oder sich abwenden. Sie wollen partout nicht erkannt werden.

Die Kinder und Jugendlichen in der „Escolinha“ scheren sich um so etwas nicht. Im Gegenteil. Sie sind neugierig, zeigen gerne Übungen des Kampftanzes „Capoeira“ oder spielen einfach weiter Fußball. Ihr Platz ist das entkernte Obergeschoss, blaue Gitter sorgen dafür, dass der zerfledderte Lederball nicht abhanden kommt.

Der Blick hinaus fällt auf die Bucht von Rio, auf den Zuckerhut. Ein Traum mit ernstem Hintergrund. Denn obwohl der Reichtum Rios so nah erscheint, werden ihn die meisten Kinder nur mit viel Glück und Fleiß genießen dürfen.

Graffiti-Pfad sorgt für Farbtupfer im tristen Alltagsgrau

Für den weiteren Weg erhält Michael Verstärkung: Lena, neun Jahre alt. Sie führen uns immer höher den Berg hinauf vorbei an Hütten, denen ein schlichtes Holzbrett als Tür dient, vorbei an kleinen Supermärkten, vorbei an Häusern, deren Fensterlöcher einen Blick auf Flachbildschirm-Fernsehgeräte zulassen. Alle eint meist der blaue Behälter, in dem Regenwasser aufgefangen wird. Und ein Kabelwirrwarr, welches Strom weiterleitet.

Etwas liegt Michael besonders am Herzen – und dafür nimmt er trotz drückender Hitze auf dem Rückweg einen Umweg in Kauf: Er zeigt uns den Graffiti-Pfad. Künstler aus der Favela und der Umgebung haben hier mit teils faszinierenden Werken für einen Farbtupfer im tristen Alltagsgrau gesorgt.

Graffiti thematisiert nahende Fußball-WM

Ein Graffiti thematisiert auch die nahende Fußball-WM. Michaels Augen leuchten, als er uns vorbeiführt. „Ich spiele auch Fußball“, sagt er. Und: „Auf die WM freue ich mich sehr, aber ich fände es klasse, wenn die Regierung für Gesundheit und Bildung genau so viel Geld in die Hand nehmen würde.“ Damit auch seine Träume wahr werden können.