Essen. Löw hat erkannt: Deutschland muss einen neuen Spielstil lernen. Tiki-Taka ist tot: Die WM-Analyse führt zu harten Entscheidungen.
Als Oliver Bierhoff unter der Woche Joachim Löw in Freiburg besuchte, war er doch überrascht. Da saß kein geknickter Mann vor ihm, kein geschlagener Bundestrainer, der mit den Umständen haderte, die zum ersten Vorrunden-Aus der deutschen WM-Geschichte geführt hatten.
Vor ihm redete einer, der tatendurstig den WM-Fußball in Russland analysierte: die Spielweise der Mannschaften, die das K.o.-System des Turniers erreichten und überlebten. Die Taktik der Franzosen. Der Brasilianer. Der Engländer.
Was der DFB-Direktor zu hören bekam, deckte sich mit dem, was der Sport-Informationsdienst so auf den Punkt brachte: „Die WM in Russland lehrt: Wer den Ball hat, verliert.“ Die Logik ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was Löw über Jahre dem deutschen Fußball beigebracht hat.
Der deutsche Stil muss sich ändern
70 Prozent Ballbesitz verbuchte Deutschland im letzten Gruppenspiel gegen Südkorea. Am Ende gewann der Gegner 2:0. Exakt 633 Pässe zählten die Statistiker. Die meisten quer, hintenrum, am eigenen Strafraum. Allein Toni Kroos, der Mann in der Zentrale, kam auf 119 Pässe.
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„Ich verzichte gerne auf den 15000. Pass von Kroos, wenn er nicht einmal den Raum ausnutzt, den er sich schafft“, polterte Ex-Weltmeister Paul Breitner. Die Botschaft ist längst bei Löw angekommen: Der deutsche Fußball muss sich ändern. Tiki-Taka ist tot.
Man konnte es beim England-Spiel gegen Kolumbien (5:4 n.E.) genauestens beobachten: Die erfolgreichen Mannschaften verbarrikadieren sich in der Abwehr „mit ein paar Ochsen“, wie Bierhoff sie nennt, und spekulieren, dass ein paar ballfertige Spieler das Ding vorne schaukeln.
Der Bundestrainer stellte fest: So spielt Frankreich mit Griezmann und Mbappé, Brasilien mit Neymar und Coutinho, England mit Kane und sonstwem. „Vom Spielkonzept her“, so Löw, „sind die ja nicht besser als wir.“ Aber eben: erfolgreicher. Bierhoff nickte.
"Zu viele Spieler hatten einfach zu viel mit sich selbst zu tun"
Darum strotzte Löw auch so vor Zuversicht, als er DFB-Präsident Reinhard Grindel Stunden darauf seinen Verbleib als Bundestrainer ankündigte. Er sieht eine konkrete Aufgabe vor sich: den Umbau der Nationalmannschaft. Er will einen neuen Spielstil kreieren. Aber mit wem?
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Das Verhältnis zu Bierhoff war schnell geklärt. Nicht das WM-Quartier in Watutinki war das Problem, nicht das Marketing oder eine Entfremdung mit dem Publikum. „Zu viele Spieler hatten einfach zu viel mit sich selbst zu tun“, kamen die Männer überein. „Es gab keine Mannschaft.“
Weil aber in der Öffentlichkeit von Meinungsverschiedenheiten die Rede war, hakte Bierhoff vorsichtshalber nach, ob er das Problem sei. „Nein“, sagte Löw eindeutig. „Du bist mein wichtigster Mann.“ Das schließe leidenschaftliche Debatten nicht aus.
Personalentscheidungen stehen an
Bis Anfang September müssen sie dem DFB-Präsidium ihre WM-Analyse im Detail vorlegen. Darin enthalten: die Namen der Spieler, mit denen die Zukunft gestaltet wird. Und mit wem nicht. Die ersten Personalentscheidungen muss Löw in den nächsten sechs Wochen treffen.
Für das Frankreich-Länderspiel am 6. September hat er ja einen neuen Kader zu benennen. Da reicht keine Diplomatie mehr: Löw muss Farbe bekennen und Spieler aussortieren. Verdiente Spieler. Weltmeister. Das Vorgehen beim Generationswechsel ist mit dem DFB abgesprochen.
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Über den Sommer wird Löw mit Nationalspielern Einzelgespräche führen, ob und wie es gemeinsam weitergeht. Die, die aufhören sollen, dürfen entscheiden: Ob sie den Rücktritt selbst erklären oder einfach nicht mehr eingeladen werden. Löw kann durchaus knallhart sein.
Die Kandidatenliste, wer aus dem 23-köpfigen WM-Kader aufhört, bleibt eine Spekulation. Nicht nur Sami Khedira, Mesut Özil, Mats Hummels, Mario Gomez werden immer wieder genannt. Aber dafür gibt es keine Bestätigung. Noch nicht.