Gelsenkirchen. . Timo Hildebrand ist dem “Hamsterrad Profifußball“ nach seiner Karriere entkommen. Im Interview spricht er über sein Leben und seine Ex-Klubs
Das Gefühl, keine Gegentore zu kassieren, kennt Timo Hildebrand nur zu gut. 884 Minuten lang musste der ehemalige Nationaltorwart vor rund 20 Jahren im Trikot des VfB Stuttgart keinen Treffer hinnehmen – noch immer Bundesliga-Rekord. Davon ist Ralf Fährmann von Schalke 04 zwar noch ein ganzes Stück entfernt, doch immerhin 360 Minuten musste der 34-Jährige nicht mehr hinter sich greifen.
Nicht nur deshalb lobt der inzwischen 43 Jahre alte Hildebrand den Schalker im WAZ-Interview vor dem Duell seine beiden Ex-Klubs S04 und dem VfB an diesem Samstag (18.30 Uhr/Sky). Außerdem spricht Hildebrand über eine mögliche Rückkehr in das Fußballbusiness, sein veganes Restaurant und sein Engagement in einer Hilfsorganisation in Stuttgart.
Schalke hat zuletzt viermal in Serie 0:0 gespielt. Haben Sie Mitleid mit den Fans, die jetzt schon sechs Stunden auf Tore warten mussten?
Timo Hildebrand: (lacht) Man kann es doch auch positiv sehen. Endlich steht bei Schalke mal die Null. Ralf Fährmann tut der Mannschaft wieder gut und das komplette Team wirkt gefestigter. Aber klar: Im Fußball ist es das Ziel, Tore zu schießen. Mit jedem Spiel, dass Schalke nicht gewinnt, schwindet die Zuversicht, die Klasse zu halten.
Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf Ihre knapp drei Jahre bei Schalke 04 zurück?
Hildebrand: Es war nicht immer einfach, doch letztlich war es für mich eine tolle Zeit, für die ich noch immer dankbar bin. Nach schwierigen Jahren beim FC Valencia, bei Hoffenheim und bei Sporting Lissabon habe ich es auf Schalke geschafft, mich zurückzumelden. Auf Schalke war ich dann wieder Nummer eins bei einem Champions-League-Klub, darauf kann ich rückblickend stolz sein.
Sie kennen Ralf Fährmann noch aus Ihrer gemeinsamen Zeit auf Schalke. Er ist jetzt immerhin seit 360 Minuten ohne Gegentor.
Hildebrand: Ich freue mich für ihn. Es ist verrückt, dass Ralle immer wieder zurückkommt. Oft hat Schalke neue Torhüter verpflichtet, doch am Ende spielt immer Fährmann. Das ist sensationell. Aktuell zahlt sich seine Geduld aus und ich würde es Ralle wünschen, dass Schalke im Sommer keinen neuen Torwart holt, sondern ihm das Vertrauen schenkt. Ein, zwei gute Jahre kann er in seiner Karriere sicher noch spielen.
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Auch zu Ihrer aktiven Zeit hatten Sie Fährmann zeitweise verdrängt.
Hildebrand: Zu meiner Schalke-Zeit hatte ich alle Rollen, die man sich als Torwart vorstellen kann. (lacht) Anfangs habe ich nur für die Amateure gespielt, dann war ich die Nummer zwei im Profikader. Durch Verletzungen von Fährmann und Lars Unnerstall habe ich dann plötzlich gespielt und wurde zur Nummer eins. Als ich mich später dann auch verletzt habe, stand Ralle wieder im Tor. Es war ein ständiges hin und her.
Wie schätzen Sie Fährmann sportlich jetzt noch ein?
Hildebrand: Die Zu-Null-Spiele sprechen für ihn. Jeder kennt seine Qualitäten. Er ist kein großer Fußballer, aber das muss man als Torwart nicht sein – das Thema wird meiner Meinung nach immer zu groß gemacht. Klar muss man ein bisschen kicken können, aber das kann er. Die Hauptaufgabe eines Torwarts ist es, Bälle zu halten und darin ist Ralle auch mit 34 Jahren noch ziemlich gut. Seine Serie spricht für ihn.
Mit solchen Serien kennen Sie sich aus. Vor rund 20 Jahren blieben Sie im Trikot des VfB Stuttgart 884 Minuten ohne Gegentor, bis heute ein Bundesligarekord.
Hildebrand: Eine solche Serie gibt unglaublich viel Selbstvertrauen. Zu dieser Zeit war ich in Top-Form, auch athletisch super drauf. Selbst wenn die Stürmer auf mein Tor zugelaufen sind, hatte ich den festen Glauben daran, dass ich das Ding sowieso halten werde.
Sie leben noch heute in Stuttgart. Wie intensiv verfolgen Sie das Geschehen beim VfB noch?
Hildebrand: Zu jedem Heimspiel schaffe ich es nicht ins Stadion, aber ich bin regelmäßig dabei und drücke dem VfB die Daumen. Auch mit einigen Verantwortlichen bin ich immer mal wieder in Kontakt.
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Trotz des eigentlich guten Kaders steckt der VfB dieses Jahr im Abstiegskampf. Woran liegt das?
Hildebrand: Ich finde es immer unpassend, wenn Ex-Spieler zu viel Kritik üben. Ziel des Klubs muss es aber sein, für Kontinuität zu sorgen. Eigentlich dachte ich, der VfB ist auf einem guten Weg, doch zuletzt gab es leider wieder Turbulenzen rund um die Trennungen von Trainer Matarazzo und Sportdirektor Mislintat. Auch weil die nötige Kontinuität fehlt, ist der VfB zu einem Verein geworden, der eher im unteren Tabellendrittel zu finden ist als im oberen – ähnlich wie bei Schalke sind die Ansprüche im Umfeld aber ganz andere. Mit Blick auf die internationalen Plätze sind Schalke und dem VfB einige Vereine enteilt. Um da wieder hinzukommen, muss man in den kommenden Jahren sehr viele gute und richtige Entscheidungen treffen. Dass es möglich ist, haben der SC Freiburg und Union Berlin vorgemacht.
Am Samstag kommt es zum direkten Duell zwischen Schalke und Stuttgart. Wie wichtig ist dieses Spiel für beide Teams?
Hildebrand: Unwichtige Spiele gibt es für die Abstiegskandidaten nicht mehr. Nächste Woche geht es für den VfB gegen den FC Bayern, es wäre also gut, wenn die Stuttgarter es schaffen, einen kleinen Puffer bis zu den Abstiegsrängen aufzubauen. Für Schalke geht es schon jetzt um fast alles. Wenn im Kampf um den Klassenerhalt noch etwas gehen soll, müssen sie den VfB schlagen.
Trauen Sie Schalke den Klassenerhalt noch zu?
Hildebrand: Viel spricht aktuell nicht für Schalke. Klar ist aber: Ich wünsche Schalke von Herzen, dass sie in der Liga bleiben.
Nach dem Ende Ihrer aktiven Karriere haben Sie sich weitgehend aus dem Fußballbusiness zurückgezogen – trotz Ihrer Erfahrung in der Bundesliga und auch in der Nationalmannschaft. Warum?
Hildebrand: Ich bin glücklich mit meinem Leben. Froh, aus dem Hamsterrad Profifußball entkommen zu sein. Ich liebe den Sport, aber mit dem ganzen Drumherum kann ich nicht viel anfangen, also den Machtspielen und der Politik in dieser von Egos geprägten Männerwelt. Deshalb habe ich mich nach meiner Karriere anderen Themen gewidmet. Trotzdem liegt mir gerade der VfB Stuttgart am Herzen und ich könnte mir gut vorstellen, dort zu helfen, wenn man mich braucht.
Statt im Profifußball arbeiten Sie als Geschäftsführer eines veganen Restaurants in Stuttgart. Wie kam es dazu?
Hildebrand: Es gab kein vergleichbares Restaurant für Veganer in Stuttgart und ich lebe selbst fast komplett vegan. Daher war es auch ein persönliches Interesse, dieses Thema in der Stadt voranzubringen. Vor zwei Jahren habe ich das Restaurant zusammen mit einem Partner eröffnet. Das war für mich als Quereinsteiger sehr turbulent, doch es macht mir großen Spaß.
Haben Sie schon als Fußballer vegan gelebt?
Hildebrand: Das kam erst danach. Während meiner Schalke-Zeit habe ich in das Unternehmen "veganz" investiert, das schon seit Jahren vegane Produkte vertreibt. Seitdem befasse ich mich intensiver mit der Thematik.
Inzwischen sprechen Sie sich auch öffentlich für eine vegane Ernährung aus. Raten Sie auch Profifußballern dazu?
Hildebrand: Wichtig ist in erster Linie eine gesunde Ernährung – und vegan heißt nicht automatisch gesund. Wenn man jeden Tag nur Pommes und Spaghetti mit Tomatensoße ist, ist es zwar vegan, aber auch nicht toll. Es gibt genug Studien über Ernährung und darüber, was gut für den Körper ist und es kann auch für die Leistungsfähigkeit ein Vorteil sein, wenn man sich überwiegend pflanzlich ernährt.
Parallel zu Ihrem Restaurant sitzen Sie im Vorstand der Hilfsorganisation „STELP“ (Stuttgart helps). Warum liegt Ihnen das am Herzen?
Hildebrand: Meiner Meinung nach haben wir alle die Verantwortung, den Leuten etwas zurückzugeben, denen es schlechter geht. Wir sind in der Nothilfe aktiv und helfen auch über die Stadtgrenzen Stuttgarts hinaus. Aktuell engagieren wir uns nach den schlimmen Erdbeben auch in der Türkei und Syrien. Mich macht es stolz, Teil dieses tollen Teams zu sein.