Gelsenkirchen. Am 19. Mai 2001 fühlten sich die Königsblauen vier Minuten lang als Deutscher Meister. Unser Reporter Manfred Hendriock war im Parkstadion dabei.
Die Bilder dieses Tages, man vergisst sie nie. Zuerst Rudi Assauer, wie er auf der Tartanbahn des Parkstadions hin- und her hüpft und sich dann mit Andy Möller in den Armen liegt. Dann das Bild mit der Leinwand, rechts von der Haupttribüne, wo einem der Atem stockt. Doch ganz besonders hat sich ein Foto in die Erinnerung eingebrannt: Erwachsene Männer mit glasigen Augen, die auf der Tribüne still nebeneinander stehen. Ich weiß noch, dass Huub Stevens ein sehr großes, weißes Taschentuch in der Hand hatte.
Kein Foto kann mehr über diesen Tag sagen, der sich an diesem Mittwoch zum 20. Mal jährt: Der 19. Mai 2001. Der Tag, an dem Schalke 04 die Meisterschale aus den Händen gerissen wurde. Dieses Foto steht stellvertretend für diesen Tag, weil es der traurigste war, den ich in 33 Jahren als Schalke-Reporter erlebt habe. Als Berichterstatter muss man ja eigentlich auch immer Distanz halten, an diesem besonderen Tag war das unmöglich. Das alles war nicht nur emotional – dieses Wort wäre viel zu schwach. Es war tieftraurig.
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Noch heute sagt man, dass Schalke an diesem 19. Mai 2001 für vier Minuten und 38 Sekunden Deutscher Meister war – was so natürlich nicht stimmt. Schalke fühlte sich lediglich als Deutscher Meister, weil TV-Reporter Rolf Fuhrmann im Innenraum des Parkstadions die Falschmeldung verbreitete, dass der Hamburger SV gegen Bayern München mit 1:0 gewonnen habe. Die Schalker Spieler, die gegen Unterhaching mit 5:3 gewonnen hatten, begannen also ihre Feierlichkeiten auf dem Rasen und fuhren dann mit der Rolltreppe hoch in die Kabine.
Klaus Fischer wusste früh Bescheid
Doch dort angekommen, sahen sie auf einem kleinen TV-Monitor, dass in Hamburg noch gespielt wurde. Die Bayern bekamen einen indirekten Freistoß zugesprochen, Patrik Andersson verwandelte zum 1:1. Dadurch holten die Bayern ihren für sie entscheidenden 63. Saisonpunkt. Schalke hatte 62 Punkte, aber das bessere Torverhältnis.
Die Zuschauer verfolgten das Drama auf einer großen Video-Leinwand über der Südkurve. Als Reporter habe ich damals sehr martialisch geschrieben: „Es war so, als ob man bei seiner eigenen Hinrichtung zuschauen müsste.“ Neben mir im Stadion saß an diesem Tag Schalkes Sturmlegende Klaus Fischer (damals 51). Er war der Erste, der mich darauf hinwies, dass in Hamburg noch gar nicht Schluss sei – in seiner Nähe war ein Radio.
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Begonnen hatte Schalkes Tragödie schon eine Woche zuvor – auch das machte den Titelkampf der Saison 2000/2001 so unvergesslich. Schalke war als Tabellenführer zum vorletzten Spiel nach Stuttgart gereist und verlor in der Nachspielzeit durch einen Treffer von Krassimir Balakow mit 0:1 – in exakt diesem Augenblick traf Alexander Zickler gut 230 Kilometer entfernt in München für die Bayern zum 2:1 gegen Kaiserslautern. Damit hatte Schalke seinen Vorsprung verspielt und konnte nur noch Deutscher Meister werden, wenn der HSV am letzten Spieltag die Bayern schlagen würde – das schien utopisch. Und doch kehrte in der Woche bis zum 19. Mai mit jedem Tag ein kleines Stück Zuversicht nach Schalke zurück.
Rudi Assauer und der Fußball-Gott
Am Vorabend des 19. Mai saß ich mit meinem besten Kumpel in Gelsenkirchen zusammen: Mit jedem Bier kam Schalke der ersten Meisterschaft seit 1958 näher. Aber auf die Idee, dass S04 für 4:38 Minuten Meister ist und dann wieder nicht – darauf sind wir nicht gekommen.
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Wie Schalke diese Schale aus der Hand gerissen wurde, ist die eine Geschichte. Die lange Nachspielzeit in Hamburg, die den Bayern geschenkt wurde, obwohl ihnen bis zur späten HSV-Führung durch Sergej Barbarez doch nur daran gelegen war, das Spiel möglichst pünktlich zu Ende zu bringen. Dann der Freistoßpfiff durch Markus Merk nach dem Rückpass auf HSV-Torwart Mathias Schober: Darf man den pfeifen? Schober war damals von Schalke an den HSV ausgeliehen und hätte den Ball nur auf die Tribüne schlagen müssen – dann wäre sein Klub Schalke 04 Meister geworden. Das alles spielte sich in Hamburg ab. Was das im Parkstadion auslöste, war einfach unfassbar. Der markanteste Satz stammt von Rudi Assauer, der an diesem 19. Mai 2001 sagte: „Ab heute glaube ich nicht mehr an den Fußball-Gott. Weil er nicht gerecht ist.“
Tatsächlich hat dieser Tag auch mein Reporter-Leben verändert. Es gibt die Zeit vor dem 19. Mai 2001, mit Erlebnissen wie dem Uefa-Pokalsieg 1997. Und es gibt die Zeit seit dem 19. Mai 2001, in der man auch als Reporter lernt, dass Schalke eher fürs große Drama steht. Nur war einem das damals noch nicht so bewusst wie heute – 20 Jahre später.
Ein Bild gibt es noch, das ich nicht aus dem Kopf bekomme. Die Schalker haben ihre Trauer damals im gemütlichen Klubhaus an der alten Geschäftsstelle mit vielen Wegbegleitern geteilt. Ganz spät am Abend traf ich auf der Toilette einen Fan, der dort hemmungslos weinte. Als ich den Kollegen danach davon berichten wollte, ist auch meine Stimme gebrochen. Noch heute bekomme ich Gänsehaut.