Gelsenkirchen. Markus Merk über die Freistoß-Entscheidung, die ihn bis heute begleitet. Und warum er freiwillig beschloss, kein Schalke-Spiel mehr zu leiten.
Der Pfiff von Markus Merk war am 19. Mai 2001 der Anfang vom Ende der Meisterträume von Schalke 04. Nachdem der damalige HSV-Torwart Mathias Schober einen Rückpass von Mitspieler Tomas Ujfalusi aufgenommen hatte, entschied der Schiedsrichter auf indirekten Freistoß in neun Metern Torentfernung für den FC Bayern.
Was danach folge, ist längst Bundesligageschichte: Patrick Andersson traf zum 1:1-Ausgleich für die Bayern und machte die Münchener zum Deutschen Meister. Die vielen Schalker stürzte er damit in ein Tal der Tränen.
Im Magazin „Mehr als ein Spiel“ (Jetzt am Kiosk! Online erhältlich unter fussballgold.de) werden anlässlich des 20. Jubiläums der Schalker Meisterschaft der Herzen viele Geschichten zu diesem Stück Bundesligageschichte erzählt – unter anderem finden Sie dort auch das folgende Interview mit Markus Merk.
Herr Merk, was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als Sie für die entscheidende Partie der Bayern in Hamburg angesetzt wurden?
Markus Merk: Damals sind die Schiedsrichter wochenweise zu den Spielen eingeteilt worden, und natürlich hat der Ansetzer an den letzten beiden Spieltagen besonders genau überlegt, welcher Unparteiische zu welchem Spiel passt. So etwas ist ja auch abhängig vom bisherigen Saisonverlauf, konkret davon, ob es zuvor Schwierigkeiten zwischen einer Mannschaft und einem Schiedsrichter gab. Am Saisonende stehen oft knackige Spiele an – um die Meisterschaft, den Einzug in die Champions League, den Abstieg. Damit war ich vertraut. Natürlich hat mich die Berufung zu diesem Spiel sehr gefreut.
Wussten Sie während der Partie, wie es auf Schalke steht?
Merk: Ja, das haben wir mitbekommen. Man spürt so etwas auch an der Atmosphäre – auf dem Feld wie auf den Rängen. Hinzu kam: An den letzten beiden Spieltagen sollen alle Spiele möglichst zeitgleich beginnen, auch nach der Halbzeitpause. Das ging in Hamburg aber nicht: Im Bayern-Tor stand Oliver Kahn, und wie so oft war kurz vor Spielbeginn sein kompletter Strafraum voller Bananen, die von den HSV-Fans in der Nordkurve aufs Feld geworfen wurden. Die mussten wir erst einmal wegräumen lassen, das hat den Anstoß deutlich verzögert. Die Ordner haben das eingesammelte Obst dann aber leider, statt es zu entsorgen, in Kisten vor die Nordkurve geschoben – kurz nach dem Anpfiff flogen die Bananen dann erneut auf den Platz. Also gab es eine weitere Unterbrechung, und im Laufe des Spiels kamen noch weitere hinzu. Das alles ließ sich innerhalb der Halbzeitpause nicht mehr aufholen, weshalb wir am Ende gegenüber dem Spiel in Gelsenkirchen rund sieben, acht Minuten hintendran waren. Dadurch war es ein noch größeres Thema, wie es auf Schalke steht. Wir haben dann auch erfahren, dass dort abgepfiffen ist und Schalke gewonnen hat. Die Bayern wussten nun: Bleibt es torlos, dann sind sie Meister.
Dann köpfte Sergej Barbarez das 1:0 für den HSV, 90. Minute.
Merk: Genau. Barbarez hat das Tor ausgiebig gefeiert, das Stadion hat getobt. Erst mit dem Anstoß nach dem Treffer begann also die Nachspielzeit – und über die ist damals wahrscheinlich mehr diskutiert worden als über den Freistoßpfiff. Dabei waren die drei zusätzlichen Minuten, die es gab, nicht besonders viel. Der Rückpass fand, wenn ich es richtig erinnere, nach einer Minute und 48 Sekunden statt. Es war alles regelkonform.
Die Bayern wirkten nervös, als sie erfuhren, dass Schalke gegen Unterhaching führt. Teilen Sie diesen Eindruck?
Merk: Nein, eigentlich nicht. Aber als Schiedsrichter darf man sich davon ja ohnehin nicht beeinflussen lassen. Das Spiel hat sich dadurch auch nicht verändert. Erst als der HSV das 1:0 gemacht hat, sind die Bayern nervös geworden. Denn jetzt war ihnen natürlich klar: Das Spiel ist gleich zu Ende, wir müssen „all in“ gehen, sonst ist die sicher geglaubte Meisterschaft weg. Ich habe dann beruhigend auf die Spieler eingewirkt, da waren ja Kapazitäten wie Effenberg und Kahn am Start (lacht). Ich habe ihnen gesagt: ‚Immer mit der Ruhe. Die reguläre Spielzeit ist jetzt um, es gibt eine Nachspielzeit – und daran ändert sich auch nichts, wenn ihr in Panik verfallt.‘
Hätten Sie damit gerechnet, dass Bayern noch den Ausgleich schafft? Hat Sie das mit Blick auf die Spielleitung überhaupt beschäftigt?
Merk: Als Schiedsrichter spekuliere ich nicht. Im Fußball kann in der Nachspielzeit bekanntlich viel geschehen, manchmal fallen auch zwei Tore. Als ich jung war, ist das auf dem Betzenberg häufig passiert. Da war es den Fans fast schon egal, ob der 1. FC Kaiserslautern nach 88 oder 89 Minuten zurückgelegen hat, weil man stets das Gefühl hatte: Das geht eh 96 Minuten lang – und am Ende macht der FCK noch ein, zwei Tore und gewinnt. In Hamburg habe ich darüber nicht nachgedacht. Aber ich habe eben gewusst, dass im Fußball immer alles möglich ist.
Die Bayern sind dann mit dem Mute der Verzweiflung angestürmt, Sammy Kuffour sah nach einem Foul an Torwart Mathias Schober die Gelbe Karte. Die Stimmung auf dem Feld und auf den Rängen kochte. Für den Schiedsrichter keine einfache Situation.
Merk: Ach, so wild war es nicht. In gewisser Weise ist man ja schon recht abgeklärt und lebt mit dieser besonderen Atmosphäre. Hochkonzentriert und fokussiert war ich sowieso. Wenn in einem solchen Spiel bei diesem Stand noch drei Minuten zu spielen sind, ist das eine Finalsituation, aber darauf ist man vorbereitet. Und dass es in diesen drei Minuten zu Diskussionen kommt, dass es Gelbe Karten gibt, dass die eine Mannschaft noch mal alles versucht, um in den gegnerischen Strafraum zu kommen oder sich in der Nähe des Strafraums einen Freistoß zu erarbeiten, während die andere bemüht ist, den Ball vom eigenen Tor fernzuhalten – das ist alles logisch und normal. Das kannte ich als Schiedsrichter gut, und ich wusste, wie ich damit umzugehen habe.
Und dann spielte Effenberg einen letzten Steilpass auf Paulo Sergio, der Hamburger Tomas Ujfalusi kam vor dem Brasilianer an den Ball und spielte ihn zu Schober zurück. Der nahm ihn rund neun Meter vor dem eigenen Tor mit den Händen auf – und es folgte der legendäre Pfiff. Sofort. Hatten Sie keinerlei Zweifel?
Merk: Zunächst mal zum regeltechnischen Hintergrund: Die sogenannte Rückpassregel wurde im Sommer 1992 eingeführt, und ich musste sie bei den Olympischen Spielen in Barcelona im selben Jahr auch als einer der ersten Schiedsrichter anwenden. Also einen solchen Rückpass ahnden, genauer gesagt: die folgende Aufnahme des Balles mit den Händen. Aber nach Olympia hatte ich nur noch selten solche Szenen – bis zu diesem Spiel in Hamburg vielleicht noch drei- oder viermal. Anfangs haben viele Torhüter ja mit großer Unsicherheit auf diese Regeländerung reagiert, und den Ball im Zweifelsfall einfach weggedroschen. Aber allmählich hatte es sich eingependelt. Und für mich war das ganz generell auch eine positive Regeländerung, weil sie das Spiel schneller gemacht hat. In Hamburg hatte ich in der besagten Szene aber keine Zweifel, richtig.
Wie haben Sie die Situation gesehen?
Merk: Klar, Ujfalusi wurde von hinten ein bisschen bedrängt, da war noch ein Gegenspieler in der Nähe. Aber seine Intention war nur eine einzige: den Ball zu seinem Torhüter zurückzuspielen. Ich weiß sogar noch, wie ich in diesem Moment dachte: Das war’s jetzt, Schober wird den Ball so weit wegtreten, wie er kann, der Ball geht irgendwo in der Hälfte der Bayern ins Aus. Und dann wird es schwer für sie werden, überhaupt noch einmal in den HSV-Strafraum zu kommen. Doch Schober hat den Ball überraschenderweise aufgenommen. Und nach dem Pfiff war uns sofort klar: Nun kommt Arbeit auf uns zu.
Inwiefern?
Merk: Ein indirekter Freistoß im Strafraum, so nahe am Tor, führt in jedem normalen Spiel schon zu Zirkus ohne Ende. Du bringst die Mauer nur mühsam auf die vorgeschriebene Entfernung, und schon vor der Ausführung springen trotzdem welche raus. Man muss deutlich sagen: Eine regelkonforme Ausführung eines Freistoßes in einer solchen Situation ist nur schwer zu gewährleisten. Und in der Explosivität dieser Sekunde – jeder wusste ja: Das ist die letzte Aktion des Spiels, ja, der gesamten Saison! – kann da kaum jemand an sich halten. Ich habe den Spielern gesagt: Ihr müsst hier keine Hektik machen, der Freistoß wird in jedem Fall noch ausgeführt, und danach ist Schluss. Klar wurde da ein bisschen gerangelt und geschubst, aber es war alles im Rahmen.
Sie standen direkt am Ball. Haben Sie geglaubt, der kann reingehen?
Merk: Ich dachte in dieser Situation natürlich auch als Fußballer. Ich glaubte, da werden einige drei Meter aus der Mauer nach vorne springen, so ein Ball geht nie im Leben ins Tor. Wie oft trifft denn jemand in so einer Situation? Nur ganz selten. Eben auch, weil es kaum möglich ist, die Ausführung hundertprozentig regelkonform hinzubekommen. Ich hatte also erwartet, dass der Ball nach dem Schuss irgendwohin abprallt – und das war es dann.
Es kam anders.
Merk: Ja. Der Patrik Andersson hat tatsächlich das Tor getroffen. Mich würde mal interessieren, ob es Absicht war, wie er das gemacht hat, oder ob er den Ball gar nicht richtig getroffen hat. Normalerweise haust du den ja einfach irgendwie mittendrauf – aber er hat ihn flach geschossen. Im Nachhinein betrachtet war es das Cleverste: Du musst ja damit rechnen, dass dir alle entgegenspringen, es bleibt kaum einer stehen. Und dann ist ein Flachschuss die optimale Variante.
Kurz danach war Schluss. Gab es irgendwelche besonderen Vorkommnisse auf dem Weg in die Kabine oder danach?
Merk: Zwei, drei HSV-Spieler waren, ich sage es mal diplomatisch, not amused. Aber sonst war da nicht viel. Als wir in der Kabine saßen, haben wir uns natürlich über die Dramatik gegen Spielende unterhalten, klar. Aber über den Freistoßpfiff an sich haben wir weniger philosophiert. Wir haben eher vermutet, dass die Nachspielzeit ein Thema werden könnte. Aber dann kam kein einziger – kein einziger! – Journalist zu uns. Weder vom Fernsehen, noch vom Radio oder von einer Zeitung. Auch in den Tagen danach hat mich niemand um eine Stellungnahme gebeten. Es hat fast zwei Jahre gedauert, bis zwei Studentinnen eines Schalker Fanmagazins dann mal zu mir nach Kaiserslautern kamen, um über diesen Tag ausführlich zu sprechen …
Wie ging der Abend weiter?
Merk: Wir sind später aus dem Stadion raus und wie eigentlich immer, wenn wir ein Spiel in Hamburg hatten, in ein Restaurant im Hafenviertel gefahren. Mein Assistent Heiner Müller hat von dort aus mit einem Schiedsrichterkollegen aus dem Saarland telefoniert – und erst von dem haben wir erfahren, was auf Schalke los war. Dass die Fans dort schon die Meisterschaft feierten und plötzlich realisierten, dass das Spiel im Volksparkstadion entgegen anderslautenden Gerüchten noch lief. Und dass sie dort die dramatischen Schlusssekunden aus Hamburg live auf der Videowand gezeigt haben, was dann viele vom siebten in den achten Himmel befördert hat. Wer damals den Fußball verfolgt hat, weiß oft noch ganz genau, wo er in diesen Minuten war: im Stadion, zu Hause, beim Grillen mit Freunden. Sie alle haben ja diese bewegenden Bilder gesehen. Wir aber kannten die am Abend noch nicht, als wir beim Essen zusammensaßen. Wir gehörten in ganz Fußball-Deutschland zu den Wenigen, die diese Dramaturgie nicht mitbekommen hatten, sondern erst viel später davon erfuhren. Als Sportler, der ich bin, konnte ich dann natürlich nachempfinden, wie sich das für die Schalker Spieler und Fans angefühlt haben muss. Was für ein Schock das für sie gewesen ist.
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Gab es in den Tagen danach Anfeindungen von Schalke-Fans?
Merk: Ich hatte bis 2004 meine Zahnarztpraxis in Kaiserslautern, im Telefonbuch fand man nicht nur deren Nummer, sondern auch meine private. Verstecken wollte ich mich nie, und als Zahnarzt eine Geheimnummer zu haben, wäre ja kontraproduktiv, auch für die Patienten (lacht). Meine Mitarbeiterinnen waren überdies schon einiges gewohnt, denn es kam immer wieder mal vor, dass am Montagmorgen wütende Fans in der Praxis anriefen. Wir hatten aber ein gutes Krisen-Kommunikations- Erlebnis-Management, wie ich es nannte, entwickelt. Aber was dann an diesem Montag nach dem Spiel abging, war unfassbar, ja auch unerträglich. Gegen zehn Uhr haben wir das Telefon abgestellt, es ging einfach nicht mehr. Am Dienstag ging es leider genauso weiter. Erst ab Donnerstag ist es etwas abgeebbt. Emotionalität war ich natürlich gewohnt, und hier sprechen wir über die entscheidende Situation in der letzten Minute der Saison. Aber Morddrohungen? Das ging zu weit.
Hatten Sie trotz allem auch Mitgefühl mit den Schalkern?
Merk: Am Tag nach dem Spiel habe ich zum ersten Mal diese Bilder mit den weinenden Schalker Fans gesehen, die ja wirklich gedacht haben, dass sie Meister sind. Dieses kollektive Zusammenbrechen … (Anm. d Red.: Merk macht eine lange Pause) Boah! Da bekomme ich auch zwanzig Jahre später noch Schüttelfrost. Als Sportler kann ich nachvollziehen, wie grausam und schrecklich das war, zumal Schalke zwar ein Traditionsklub ist, der Titel für den Verein aber ja keine Alltagsmeisterschaft gewesen wäre. Die Sehnsucht nach der Meisterschaft war riesig. Als Schiedsrichter bist du neutral, aber ich bin natürlich nie auf den Platz gegangen, um mit meinen Entscheidungen Fans in ein Tränenmeer zu stürzen. Man weiß, dass es passieren kann. Aber diese Dimension von Betroffenheit war schon heftig, auch für mich persönlich. Das bewegt mich auch nach 20 Jahren noch immer.
Erinnern Sie sich noch, wie der Sonntag verlief?
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Merk: Sehr genau sogar. Wir haben bei mir zu Hause mit Freunden ein bisschen gegrillt. Ich weiß noch, dass ich damals zu meinem Schiedsrichterkollegen Herbert Eli, der bei mir ja eine Ewigkeit als Linienrichter dabei war, sagte: ‚Mir wäre es fast lieber, das wäre gestern eine Fehlentscheidung gewesen. Dann könnte ich sagen, dass es falsch war, ich es aber nicht mehr ändern kann.‘ So aber hatte ich es mit Menschen zu tun, die partout nicht wahrhaben wollten, dass die Entscheidung regeltechnisch richtig war. Herbert hat widersprochen und gesagt: ‚Wenn das falsch gewesen wäre, würdest Du das für immer mit Dir herumschleppen.‘ Da hatte er natürlich Recht.
Auf Schalke haben Sie danach nicht mehr gepfiffen, richtig?
Merk: Nie wieder. Ich bin 2005 noch einmal nach Schalke gekommen, als der Fußball-Globus, dieses Kunstobjekt zur Heim-WM in Deutschland, im Vorfeld des Turniers in Gelsenkirchen aufgestellt wurde. Es gab dort eine Veranstaltung zum Thema „Fairplay im Fußball“, zu der ich eingeladen war. Olaf Thon war auch dabei. Die Sicherheitsvorkehrungen in dem Globus waren ähnlich streng wie auf einem Flughafen. Einige hundert Leute saßen letztlich im Publikum, viele davon natürlich eingefleischte Schalke-Fans im Trikot, auch Vertreter der Nordkurve. Es war ein bewegender, ein emotionaler Abend, an dem ich mir viel anhören musste. Aber ich habe das auch gerne getan, weil ich diese Emotionalität verstehe. Das Spiel lag damals schon vier Jahre zurück, aber man hatte das Gefühl, dass es erst am Tag zuvor abgepfiffen worden sei. Ich habe natürlich nicht erwartet, dass ein Fan, der das alles miterlebt hat, meinen Freistoßpfiff nun mit Abstand zu einhundert Prozent akzeptiert. Dafür war er aus Schalker Sicht zu entscheidend, zu bitter, zu ultimativ.
HSV-Torwart Mathias Schober war von Schalke ausgeliehen, er hätte den Freistoß problemlos vermeiden können. Trotzdem hat sich die gesamte Wut der Schalker gegen Sie gerichtet.
Merk: Es war für mich schon etwas überraschend, dass über ihn relativ wenig gesprochen wurde. Schließlich war es verwunderlich, dass er den Ball nach dem Rückpass von Ujfalusi in die Hände genommen hat, statt ihn über das Tribünendach zu schießen. Aber ich bin immer froh, wenn es niemanden anderen hart trifft. Und wenn stattdessen ich etwas davon schultern muss, dann ist das eben so. Ich komme damit klar.
Ein Fußballspiel des FC Schalke 04 haben Sie nach dem 19. Mai 2001 also nie mehr gepfiffen? Wessen Entscheidung war das?
Merk: Um den Schiedsrichter zu schützen und Diskussionen in den Medien zu vermeiden, hält man ihn nach einer solch aufreibenden Situation vorerst von dem betreffenden Verein fern. Das geht nicht selten ein Jahr, vielleicht auch mal zwei Jahre so – und man spricht dann nicht groß darüber, wann man es wieder zulässt. Für mich aber war immer klar: Ich gehe nicht auf einen Fußballplatz, um dort im Mittelpunkt zu stehen. Die besten Spiele für einen Schiedsrichter sind die, bei denen die Zuschauer am Ende nach Hause gehen und unabhängig vom Ausgang gar nicht mehr wissen, wer überhaupt gepfiffen hat. Und das wäre bei einem Heimspiel von Schalke, bei der Vorgeschichte, nicht möglich gewesen. Die Schalker Verantwortlichen übrigens hätten nichts gegen meine Rückkehr gehabt. Nach der Tsunami-Katastrophe im Indischen Ozean an Weihnachten 2004 wurde spontan ein Benefizspiel zwischen der deutschen Nationalmannschaft und einem „Bundesliga-Allstars“-Team für Januar 2005 angesetzt. Die Begegnung sollte in der Schalker Arena stattfinden, und als die Frage aufkam, wer pfeift, hieß es: Markus Merk. Aus der Sitzung des DFB heraus, bei der die Veranstaltung vorbereitet wurde, hat man mich dann angerufen und mir das mitgeteilt. Es ging hier aber um eine Aktion mit einer großartigen sozialen Komponente und um gesellschaftliche Verantwortung. Genau das ist ja eigentlich mein Leben. Um so bitterer war es für mich, so zu entscheiden. Aber ich habe sofort gesagt: ‚Ich pfeife das Spiel nicht.‘ Es soll schon bei einem normalen Fußballspiel nicht sein, dass der Schiedsrichter im Mittelpunkt steht. Bei einem Spiel für einen guten Zweck nach einer solchen Naturkatastrophe, mit dem man wieder erste positive Akzente setzen möchte, geht das schon mal gar nicht. In diesem Moment stand dann auch für mich fest: Ich werde nie mehr den FC Schalke 04 pfeifen. Weder auswärts, noch daheim. Man hat noch manches Mal versucht, mich umzustimmen, aber darauf habe ich mich nicht eingelassen.
Zum Abschluss die Frage aller Fragen: Würden Sie die Entscheidung auf indirekten Freistoß heute, 20 Jahre danach, wieder so treffen?
Merk: Ja! Weil sie die einzig mögliche und regeltechnisch korrekte war und ist – auch wenn sie einer Mannschaft sehr weh getan hat.
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