Gelsenkirchen. Was Jahrhundert-Torwart Norbert Nigbur über den ersten Abstieg von Schalke 04 vor 40 Jahren und den drohenden Absturz heute in Bielefeld denkt.

So richtig hat er dem Braten eh nicht getraut. „Das 1:0 gegen Augsburg war ja auch nicht das Gelbe vom Ei“, sagt Norbert Nigbur und redet lieber gar nicht weiter, wenn er an das 0:4-Debakel beim SC Freiburg vom vergangenen Samstag denkt. Und somit kann an diesem Dienstag aus Sicht des FC Schalke 04 traurige Gewissheit werden, was seit Wochen zu befürchten ist: Im Falle einer Niederlage bei Arminia Bielefeld (20.30 Uhr/Sky) wären die Königsblauen am fünftletzten Spieltag der Bundesliga-Saison abgestiegen. Wie fühlt sich das für einen Ur-Schalker an? Norbert Nigbur, der im Mai 73 Jahre alt wird, muss es wissen. Er ist wegen vieler Klasseleistungen in 455 Spielen für die Königsblauen ihr Jahrhundert-Torwart, hat auch den ersten Absturz in die Zweitklassigkeit 1981 miterlebt.

Herr Nigbur, neutrale Fans nehmen bei manchen Klubs solche sportlichen Entwicklungen einfach hin. Bei einem so emotional aufgeladenen Verein wie Schalke ist ein Abstieg besonders bitter.

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Norbert Nigbur: Ja, natürlich. Es ist ja nicht nur so, dass ich als ehemaliger Spieler mit Schalke zittere. Das ist auch für die Region traurig. Das Tragische an der Sache: Schalke steigt ab, und die anderen Blauen aus Bochum gehen wahrscheinlich hoch. Was wären das für tolle Revierderbys geworden, wenn Schalke sich hätte retten können? Und auch die Dortmunder, kann ich mir vorstellen, werden sich nicht darüber freuen, dass Schalke abgeht.

Nigbur und Fischer verletzt: Als Schalke 04 1981 erstmals aus der Bundesliga abstieg

Haben Sie vor 40 Jahren das Unheil kommen gesehen?

Norbert Nigbur: Nein. Für mich fühlte sich das ungewohnt an, weil ich erst eingreifen konnte, als viele Punkte schon verloren waren – ich hatte eine schwere Knieverletzung, Klaus Fischer hatte sich das Bein gebrochen. Wenn man die Angst, abzusteigen, aber vom ersten bis zum letzten Spiel durchmacht, muss das grausam sein.

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Irgendwann beschleicht einen aber doch das mulmige Gefühl, dass es eng werden könnte, oder?

Norbert Nigbur: Den großen Unterschied zu den erfolgreichen Jahren habe ich 1977 bemerkt, als wir Vizemeister wurden: Da ist ein 25-Meter-Schuss, den ich aufs Tor bekommen habe, von der Unterkante wieder rausgesprungen. Wenn man aber vier Jahre später unten in der Tabelle steht, bekommt man den Ball an den Hinterkopf, von dem er dann über die Linie springt. Der Abstiegskampf ist ein Phänomen, da spielt der Kopf eine unheimlich große Rolle.

Kam Ihnen der Gedanke, sich aus dem Staub zu machen?

Norbert Nigbur: Niemals. Es haben sich zwar gleich einige Spieler vom Acker gemacht. Aber Rudi Assauer hat mich gefragt, ob ich bleiben könnte, er bräuchte für den Aufstieg unbedingt einen Torhüter. Okay, es gab andere Angebote, aber ich habe mich breitschlagen lassen. Ich wollte mich nicht vor dieser Aufgabe drücken.

Warum der BVB und Bayern München ein Vorbild für Schalke 04 sein können

Sie sind auch tatsächlich direkt mit der Mannschaft wieder aufgestiegen. Wie wichtig ist Identifikation mit dem Verein in solch brenzligen Situationen?

Norbert Nigbur: Nehmen Sie mal die Dortmunder und die Bayern als Beispiel. Der BVB war in den 70er-Jahren auch abgestiegen, die Bayern waren 1991/92 mal gefährlich weit unten. Dann brauchst du Leute, die sich mit dem Verein identifizieren – und die hatten sie auch jeweils. Ich bekomme heute noch Autogrammpost, bei der die Leute schreiben: Sie sind ja noch ein richtiger Schalker. Ich habe das damals nie betont, ich musste das nicht von mir behaupten, ein echter Schalker zu sein – ich habe es auf dem Platz gezeigt. Schalke war für mich immer eine Religion. Was immer ich gemacht habe, für mich kam immer der Verein an erster Stelle. Dann kamen die Fans. Und dann kam ich.

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Ist das heute schwieriger, sich mit dem Klub so zu identifizieren, wie Sie es damals taten?

Norbert Nigbur: Nein, wieso? Wieder die Bayern als Beispiel: Die haben ihr „Mia san mia“. Wer dorthin geht, bekommt das Sieger-Gen gleich verabreicht, er muss sich der Sache unterordnen. Egal, wer nach Schalke gekommen ist, um etwas zu bewegen: Ich hatte immer das Gefühl, derjenige macht das, was er will. So wie ein Alleinunterhalter. Das gilt auch für einige Spieler. Selbst zu der Zeit, als Schalke Meister der Herzen oder zuletzt Vizemeister war, habe ich eine Mannschaft gesehen – aber ob die alle durch dick und dünn gegangen wären? So etwas muss man aber als Verein vorleben. Sich hinzustellen und zu sagen, man sei Schalker, reicht nicht – man muss es auch zeigen, dass man Schalker ist.

Stevens, und dann? Nigbur vermisst bei Schalke 04 sportliche Kompetenz

Was fehlt Ihnen denn bei Schalke?

Norbert Nigbur: Die sportliche Kompetenz. Schalke hatte Huub Stevens, aber er allein konnte das ja auch nicht richten. Ein erfolgreicher Verein muss eine wirtschaftliche und eine sportliche Macht darstellen. Und in einen Sportvorstand, der über diese Geschicke entscheidet, gehören Leute, die davon Ahnung haben. Ich kann doch auch nicht Anwalt in einer Kanzlei werden, wenn ich aber einen Handwerksberuf erlernt habe. Schalke hat so viel Potenzial an guten ehemaligen Spielern. Ich kenne Olaf Thon gut: Er hat jetzt wieder seine Hilfe angeboten, die hat man aber abgelehnt. Ein Weltmeister – da würden sich andere Klubs die Finger nach lecken.

Woran liegt es, dass der Verein solche Angebote ausschlägt?

Norbert Nigbur: Das ist auch kein akutes Problem, das war schon vorher der Fall. Rudi Assauer duldete keinen neben sich. Dann kam Clemens Tönnies, der nicht mehr da ist, aber es sicher gut gemeint hat. Trotzdem: Es war nie ein Unterbau an Kompetenz da. Das ganze Gebilde musste irgendwann mal zusammenbrechen.

Nigbur: Ein Kultfigur wie Benedikt Höwedes hätte Schalke 04 nie gehen lassen dürfen

Vor drei Jahren waren die Königsblauen noch Vizemeister.

Norbert Nigbur: Aber da sind doch Entscheidungen getroffen worden, die man nicht nachvollziehen kann. Ein Beispiel: Benedikt Höwedes wurde abgegeben, eine Kultfigur. Ein Trainer, der mit Stars nicht klarkommt, ist für mich kein guter Trainer. So viel Glück kann man eigentlich nicht haben, um dann noch Vizemeister zu werden. Schalke ist schon im Jahr der Vizemeisterschaft abgestiegen, nicht erst in dieser Saison, weil damals die falschen Schlüsse aus dem zweiten Platz gezogen worden sind. Ich sage Ihnen: Schalke hat einen schweren Gang vor sich, wird der Schalter nicht umgelegt.

Das versucht der neue Sportvorstand Peter Knäbel, das versucht der Trainer Dimitrios Grammozis.

Norbert Nigbur: Ob ihnen das gelingen wird, wird sich zeigen – ich wünsche es ihnen auf jeden Fall. Noch wissen wir ja gar nicht, wie die neue Mannschaft aussehen wird. Eines steht aber fest: Die aktuelle Truppe hätte keine Chance, in der 2. Liga oben mitzuspielen.

Aus dem Kader werden ja auch nicht mehr viele mit den Gang in die Zweitklassigkeit antreten.

Norbert Nigbur: Wichtig ist, dass Schalke sich Kompetenz verschafft. Die Strukturen haben lange nicht gestimmt, um dann die Mannschaft zu planen und die Fehler abzustellen. Sonst fängt der gleiche Mist wieder von vorne an. Ein Trainer ist dabei wichtig, aber nicht das Entscheidende. In der neuen Saison brauche ich eine Mannschaft, in der sich jeder den Hintern aufreißt. Denn: Keiner will Schalke in der Zweiten Liga haben.