Gladbeck. Mathias Schipper stieg mit Schalke 04 zweimal ab. Hier erklärt er, was in den Spielern vorgeht: „Jeden Tag fragst du dich: Woran hat es gelegen?“
Ganz zum Schluss des Gesprächs macht Mathias Schipper Hoffnung. Es geht um die Frage, ob bei einem Abstieg die Lichter auf Schalke womöglich ganz ausgehen könnten, aber das will der frühere S04-Profi gar nicht beurteilen. Es würde nichts helfen, sich darüber jetzt schon Gedanken zu machen, entgegnet Mathias Schipper und antwortet lieber so: „Ich glaube, dass immer noch so viel Substanz in der Mannschaft ist, dass sie nicht absteigen wird.“
Einer, der noch an Schalke glaubt.
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Viele äußern sich im Moment über Schalke, aber nur wenige können so sehr nachempfinden, was die Königsblauen gerade durchmachen. Denn Mathias Schipper hat alles selbst erlebt: Zweimal ist der Abwehrspieler mit Schalke aus der Bundesliga abgestiegen, nachdem letzten Mal im Jahr 1988 hat er seine Karriere beendet. Diese Entscheidung damals, im Alter von nur 31 Jahren mit dem Fußball aufzuhören, hatte zwar nicht unmittelbar mit dem Schalker Abstieg zu tun; sie war mit einer beruflichen Neuorientierung begründet. Aber die Partie am 21. Mai 1988 im Parkstadion gegen Werder Bremen (1:4) war das letzte Bundesligaspiel in der Karriere von Mathias Schipper. Der heute 63-Jährige erinnert sich an sein trauriges Finale in Königsblau: „Abgestiegen sind wir schon eine Woche vorher durch eine Niederlage in Köln. Danach bin ich wirklich ausgerastet. Denn einige von uns saßen nach dem Spiel in der Kabine und haben sich tatsächlich damit beschäftigt, wohin sie abends ausgehen würden.“
256 Profispiele hat Mathias Schipper für Schalke bestritten. Er weiß, was sich in diesen Momenten abspielt. In der Mannschaft. Im Verein. Und auch bei den Fans.
Die Fans
Schipper, in Castrop-Rauxel geboren und schon als Jugendspieler auf Schalke, hatte immer einen guten Draht zu den Fans. Da gab es die beiden Schwestern aus Castrop, zwei ältere Damen um die 70, die einfach „immer dabei“ gewesen seien. Oder den Schalker aus der damaligen DDR, der die Fan-Post über Jahrzehnte aufbewahrt hat und den Schipper viele Jahre später traf. Für den früheren Profi ist es noch heute eine Art des guten Umgangs, dass er Fan-Post beantwortet und mit ein paar persönlichen Zeilen versieht. Für Schalke nimmt Schipper immer noch Aufgaben als Repräsentant des Vereins wahr – vor Ausbruch der Corona-Krise war er noch bei Fan-Treffen zugegen.
Was er dort mitnimmt, ist viel mehr als ein oberflächlicher Eindruck: „Du merkst, was die Leute für Schalke auf sich nehmen, wie sie leiden.“ Er ahnt, nein er weiß, dass das heute noch genauso ist wie vor 32 Jahren, als er selbst auf dem Platz stand und die Emotionen auch ihm galten. Manchmal auch Dinge, die nicht so schön waren, speziell im Abstiegsjahr 1988. Schipper erinnert sich an eine Begegnung nach einem Heimspiel, als er mit seiner Frau und seinem Sohn auf dem Parkplatz hinter der alten Haupttribüne beschimpft wurde. „Da kam eine Frau auf uns zu und hat zu meiner Frau gesagt: Sie sind auch schuld!“ In diesem Moment, gibt Schipper zu, „habe ich auch mal die Beherrschung verloren.“ Aber er hat sich damit auseinandergesetzt.
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Und das ist es, was er auch den Profis von heute empfehlen würde. Den Profis und dem Verein: „Es ist unheimlich wichtig, dass man die Spieler darauf vorbereitet, wo sie hier leben. Dass man ihnen die Mentalität der Menschen näher bringt. Dass sie hier morgens zum Bäcker gehen können, ohne dabei von 500 Menschen bestaunt zu werden. Irgendwann bist du dann einer von denen.“ So ist zum Beispiel auch ein Klaus Fischer, der aus dem bayerischen Wald stammt, im Ruhrgebiet heimisch geworden.
Die Mannschaft
Themawechsel, von den Fans zur Mannschaft. Ob er sich als Spieler mitschuldig gefühlt hat, damals am Schalker Abstieg? Mathias Schipper antwortet ohne zu Zögern: „Ja klar, sicher. Du hast versagt.“ Er ergänzt: „Du verlierst in solchen Monaten nicht nur an Selbstvertrauen, sondern auch an Selbstwertgefühl. Denn du hast ja dazu beigetragen. Jeden Tag fragst du dich: Woran hat es gelegen?“ Heute, sagt der 63-Jährige, würde er damit anders umgehen. Damals konnte er das noch nicht. Aber er ist sich sicher, dass es auch in der aktuellen Schalker Mannschaft Spieler gibt, denen der Niedergang richtig nahe geht. Die leiden. Auch ein Toni Schumacher habe beim Abstieg ‘88 gelitten.
„Ich kann mir vorstellen, wie es den Jungs jetzt geht“, sagt „Mattes“ Schipper mit Blick auf Schalkes aktuelle Mannschaft, die 25 Bundesligaspiele in Folge nicht gewonnen hat. Er ist kein Typ für Stammtischparolen, und wer die an dieser Stelle erwartet, der sollte jetzt besser nicht weiterlesen. Denn Schipper reflektiert aus seiner eigenen Karriere und sagt über das Schalke im Jahr 2020: „Es heißt ja immer, die sollen sich mal anstrengen, nach dem Motto: Die haben sich beim letzten Mal nicht richtig angestrengt. Aber so ist es ja nicht.“
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Schipper, der heute als Physiotherapeut mit eigener Praxis in Gladbeck arbeitet, macht Vorgänge, „die im Unterbewusstsein ablaufen“, für die scheinbar nicht enden wollende Fortsetzung der Schalker Sieglos-Serie verantwortlich. Er erklärt: „Vor dem Spiel kannst du noch so locker sein, aber sobald es angepfiffen wird, läuft das Kopfkino ab. Dann denkst du daran, was beim letzten Mal passiert ist und bist manchmal froh, wenn du den Ball nicht hast.“ Er nennt ein Beispiel: „Jeder unserer Spieler beherrscht einen Pass über 60 Meter. Aber wenn du die Leichtigkeit nicht hast, spielst du diesen langen Pass nicht. Und die Leichtigkeit hast du nur, wenn es läuft.“ Ein Teufelskreis, in dem Schalke steckt. Heute und irgendwie auch vor 32 Jahren.
Der Verein
Ja, auch ein „Mattes“ Schipper erkennt diese unheilvollen Parallelen zwischen damals und heute. Auch 1988 habe sich der Niedergang durch die gesamte Saison gezogen, „wir haben von Anfang an gegen den Abstieg gespielt, die Stimmung war schlecht – man versucht, die Schuld an den anderen abzugeben.“ Auch die Gesamtsituation im Verein war vergleichbar: Schalke hatte auch damals keine Kohle. „Wir Spieler“, erinnert sich Schipper, „sollten auf zehn Prozent der Gehälter verzichten.“ Alles schon mal dagewesen, auch ohne Corona. Nur dass es jetzt, mit Corona und einem abzusehenden Schuldenstand von bald 240 Millionen Euro, noch bedrückender wirkt.
Mathias Schipper lässt das eine Sekunde im Raum stehen – dann entgegnet er mit einem Satz, der zwar nicht von ihm stammt, über den es sich aber nachzudenken lohnt: „Wenn das Dach über dir zusammenbricht, kannst du den Himmel wieder sehen.“