Essen. Die Diskussion um Bundestrainer Joachim Löw nach dem EM-Aus im Halbfinale gegen Italien verlagert sich jetzt auf eine Leitwolf-Debatte. BVB-Trainer Jürgen Klopp findet die Form der Kritik „nicht angemessen. Das hat er so nicht verdient.“
Wie schmal der öffentlich gezogene Grat zwischen Heldenverehrung und Hexenverbrennung, zwischen der Rolle als nationales Idol und ahnungsloser Trottel ist, durfte Joachim Löw in den letzten Tagen hautnah erleben.
Bis zum Donnerstag, so gegen 21 Uhr, war der Mann mit dem offiziell lizenzierten Beruf des Fußball-Bundestrainers noch der Mann mit dem goldenen Griff, die Leitfigur der Nation, die mit erstaunlich lockerer Hand ein Ensemble befehligte, das zu größten Hoffnungen inspirierte. Zwei Stunden – und ein verlorenes Fußballspiel später – ist er der überforderte Pädagoge für eine Gruppe vaterlandsloser Gesellen, die in früheren Zeiten wohl mit dem Satz „Geht doch nach drüben“ empfangen worden wären.
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Die Bild-Zeitung, Zentralorgan deutscher Befindlichkeit, setzte erst einmal „Die Abrechnung“ auf den Spielplan. Mit der Zeile „Memmen gegen Männer“ war dann eigentlich alles gesagt, die weiteren Versatzstücke wie „Lahm labert wie ein Politiker“ oder „Gomez hat nur die Haare schön“ dienten nur der Verstärkung des kontrastreichen Bildes.
Drastische Form der Kritik stößt bei Klopp auf Widerspruch
Die drastische Form der Kritik stößt auch bei BVB-Trainer Jürgen Klopp auf Widerspruch. Am Rande einer Sponsoren-Veranstaltung in Hamburg sagte der Dortmunder Trainer am Sonntag: „Was in den letzten Tagen passiert ist, ist einfach unnütz. Alles erst im Positiven so aufzublasen und dann so im Negativen abzusägen, nimmt den Spaß an der Geschichte. Das hat Joachim Löw so nicht verdient.“ Grundsätzlich, so Klopp, sei Kritik in Ordnung. „Und wenn man ein Spiel, das man hätte gewinnen können, verliert, hat das auch Gründe. Anlass gibt es also. Aber dann bitte an den Fakten und am Fußball arbeiten.“
Längst aber haben sich die Debatten fort entwickelt, entfernt vom offenkundigen Fauxpas des Bundestrainers, der sich mit seiner Aufstellung gegen Italien taktisch grandios verzockt hatte. War es die Angst vor Andrea Pirlo, dem italienischen Taktgeber, war es also Löws Kleinmut, der ihn in diese Taktik trieb? Oder im Gegenteil Hochmut, gar Größenwahn, weil Joachim Löw, geblendet vom fast bizarren Personenkult, dachte, dass jede noch so krude Aufstellung und Taktik-Idee schon funktionieren werde bei seinem goldenen Händchen, das ihm doch alle attestierten?
Der einzige Mann, der diese Frage erschöpfend beantworten könnte, sitzt im Breisgau und schweigt. Joachim Löw hat sich in seine Oase zurückgezogen, aber die herbe Kritik wird an ihm nagen, ihm zusetzen, ihn treffen – und vor Augen führen, wie fragil sein Modell ist.
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Und er wird, wenn er am geliebten Espresso nippt, genau registrieren, wer sich im Land der Fußball- Heroen alles zu Wort meldet. Immerhin: Inzwischen versehen alle Experten ihre Kritik mit den Hinweis, dass dieser Herr Löw dann doch der beste aller derzeit denkbaren Bundestrainer ist, gar „einer der besten der Welt“ (Günter Netzer). Dass dieser Joachim Löw also im Amt bleiben müsse. Nur die Art und Weise seiner Mannschaftsführung, die solle der 52-Jährige doch langsam überdenken angesichts des fortgesetzten Scheiterns in den finalen Duellen. Plötzlich bestimmt der Geist eines Mannes die Diskussion, der bereits das Zeitliche gesegnet zu haben schien, dessen furchterregendes Heulen nur noch gedämpft zu hören war – der Führungsspieler, der Leitwolf. Jene Männer (allesamt keine Memmen), die Verantwortung übernehmen, „mal einen über die Bande grätschen“, wie es alt-deutsch hieß, die in der so genannten Hierarchie ganz oben stehen.
Mangel an Individualismus
Niemand symbolisiert die deutsche Achtung vor starken Typen so sehr wie Oliver Kahn, der nun bei der EM sein grobmaschiges Analysenetz am Strand von Heringsdorf auswarf, um die immergleichen Begriffe „Druck“ und „Willen“ aus der Ostsee zu fischen. „Das ist das, was gefehlt hat: die Zweikampfhärte, diese letzte totale Leidenschaft, Einsatzbereitschaft“, sagte Kahn nun. Der Nachteil an den viel zitierten flachen Hierarchien sei, so Kahn, „dass die Spieler nicht zur Verantwortung erzogen werden.“ Und Günter Netzer, vielleicht der größte Individualist der Fußball-Geschichte, zeterte über die „Gleichmacherei“, mit der „gleichzeitig die Eigeninitiative abgewürgt“ werde.
War also früher alles besser? Spitz gefragt: Wie oft gewann das Land der starken Männer die finalen Spiele? Wie viele Titel häufte der DFB an mit der Generation Kahn, Effenberg und Ballack?
Niemand stellt in Abrede, dass die neue Fußballer-Generation – den Internaten entwachsen, frühzeitig geschult, rund-um-betreut – weniger krachledernden Individualismus provoziert. Doch ist dieser Mangel an extrovertierten Persönlichkeiten ein Ausschlusskriterium für Titel? Wie passt diese These zum historisch einmaligen Triumphzug des spanischen Kollektivs mit lauter Stars, deren zurückhaltende Bescheidenheit selbst einen Bastian Schweinsteiger als großmäulig erscheinen lassen? Für derartige Zwischentöne aber ist derzeit kein Platz am erhitzten Stammtisch. Joachim Löw wird damit leben müssen. Und noch einen Espresso trinken.