Danzig. Das Land feiert den Halbfinal-Einzug der DFB-Elf, die neue, alte Größe des deutsches Fußballs – und Joachim Löw. Doch wer heute glaubt, all die tollen Erfolge verdanken wir allein dem damaligen Assistenten und aktuellem Souverän des nationalen Ensembles, der liegt falsch.
Kamera läuft, Lächeln einschalten. Kamera läuft nicht, Lächeln ausschalten. Die meisten Journalisten, denen Jürgen Klinsmann am 12. August des Jahres 2004 im großen Saal der Frankfurter Zentrale des Deutschen Fußball-Bundes erschien, konnte der neue Bundestrainer mit seinem gewinnorientierten Zahneinsatz nicht täuschen. Sie kannten ihn schon als den Spieler, der im Verlauf seiner Karriere immer wusste, wann Freundlichkeit den Marktwert fördern würde.
In das hohe Amt, das er am 29. Juli des Jahres übernommen hatte, brachte der Wahl-Kalifornier aber mehr ein als sein Lächeln: einen US-amerikanisch inspirierten Motivationsschmökerwortschatz, aus dem niemand recht schlau werden konnte. Ist der Mann ein Genie? Oder doch nur ein ganz gewiefter Blender?
Diese Fragen waren noch nicht beantwortet zu diesem Zeitpunkt. Deshalb wurde dem 12. August, deshalb wurde dem Auftritt des Bundestrainers eine solche Bedeutung beigemessen. Es ging erstmals tatsächlich nicht um die Optimismus-Übertragung von einem menschlichen Wirt auf den anderen. Natürlich mit dem Weitblick auf die WM 2006 im eigenen Land.
Es ging erstmals um Fakten
Es ging darum, für ein Freundschaftsspiel gegen Österreich einen Kader zu präsentieren. Dass die Partie gewonnen wurde, verschaffte Klinsmann Luft in dem engen Diskussionsraum, in dem alles, was Deutschlands Nationalmannschaft betrifft, eingepfercht ist. Aber am 12. August? Am 12. August zog er Frank Fahrenhorst als einzigen Debütanten aus dem Zylinder, den seinerzeit bereits 26-jährigen Bremer Verteidiger, der unter dem Spitznamen „Gefahrenhorst“ einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt hatte.
Mancher war beruhigt. „Den ganzen Laden umkrempeln“, wie Klinsmann es in den Tagen des Werbens von Ex-DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder um seine Gunst angekündigt hatte, würde wohl auch dieser Bundestrainer nicht. Mancher war enttäuscht. Der als notwendig erkannte Umsturz, der den Neuaufbau ermöglichen sollte, würde wohl ausbleiben. Wer sich beruhigt fühlte, hörte jedoch schon bald das Surren der Guillotine. Und wer am Mittwoch, einen Tag vor der Halbfinal-Partie bei der EM 2012, einen Tag vor dem Aufeinanderprall mit den Italienern glaubt: Das alles haben wir doch allein Joachim Löw zu verdanken. Für all die tollen Erfolge schulden wir doch allein dem damaligen Assistenten und aktuellen Souverän des nationalen Ensembles Dank: der liegt falsch.
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Mayer-Vorfelder schuf Basis für Veränderungen
Die Basis für Veränderungen hatte der DFB mit dem gewieften Machtpolitiker Mayer-Vorfelder an der Spitze selbst geschaffen. Nach dem erschreckenden Viertelfinal-Aus bei der WM 1998 wurden Konzepte gefertigt, deren Unerlässlichkeit der ehemalige Bundestrainer Berti Vogts schon 1996 nach dem Triumph bei der EM betont hatte. Die Talentsichtung und die Ausbildung junger Spieler wurden professionalisiert. Leistungszentren entstanden. Das Zusammenwirken mit Schulen etablierte sich. Dass in der Nationalmannschaft derzeit neben all diesen Lahms, Schweinsteigers, Götzes, Schürrles einzig der 34-jährige Miroslav Klose keinen Kontakt mit den neuen DFB-Institutionen hatte, zeugt davon, wie wirksam der Reformprozess war. Doch ohne den Lächler hätte dieses Ensemble zum Beispiel: einen anderen Bundestrainer.
2004 galt Klinsmann als Querdenker, als ein Unangepasster, den die auf dem Rasen erworbene Europa- und Weltmeister-Reputation vor grober Missachtung schützte. Löw dagegen war ein Trainer, der in Österreich vermutet wurde oder in der Türkei, irgendwo, wo die von Fußballland Aussortierten sich den Lebensunterhalt verdienen. Selbst als der neue Chef ihn als Co-Trainer verpflichtete, murrten die alten Heroen, deren Kommentare die Sprechblasen füllten. Kritik war aber Klinsmanns ständige Begleiterin. Und seine Reaktion auf diese Kritik war stets die gleiche: Er ignorierte sie. Löw? Gewogen und für zu leicht befunden. Löw kommt. Einen Teammanager, einen Oliver Bierhoff gar, brauchen wird nicht? Bierhoff kommt. Ein Psychologe ist etwas für Weicheier? Hans-Dieter Hermann kommt. Fitnessgurus aus den USA sind uns suspekt? Die Fitnessgurus will ich, ich, ich.
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Wenn beim DFB auf der Ebene des Inoffiziellen über die Ära Klinsmann geraunt wird, lässt sich kein Bedauern über sein so jähes Ausscheiden im Juli 2006 ausmachen. Projekt WM abgeschlossen. Und tschüss. Doch über dessen brutales Durchsetzungsvermögen konnten Verkrustungen aufgebrochen, konnten Entscheidungen gefällt werden, die die Nationalmannschaft weiter brachten, immer weiter. Denn: Welcher andere Bundestrainer hätte es schon unter anderem gewagt, Oliver Kahn in die Titanic des deutschen Fußballs zu verwandeln?
Klinsmann rief den Konkurrenzkampf aus
Natürlich war es absurd, dass mit Sepp Maier ein Torwarttrainer seinem Handwerk als Lobbyist des Bayern nachging, der die Nummer zwei Jens Lehmann für Ballast hielt. Natürlich war es absurd, dass Ex-Teamchef Rudi Völler, der nach dem erniedrigend frühen Aus bei der EM 2004 abdankte, seinem Kapitän erlaubt hatte, die eigene Mannschaft, die eigene Gruppe mit teutonischem Führungsspielergewummse zu traktieren. Folgen? Bis zum Amtsantritt des Neuen keine. Danach: Erst rief Klinsmann den Konkurrenzkampf aus. Dann schasste er Maier. Dann ernannte er Michael Ballack zum Capitano. Dann platzierte er Lehmann bei der WM im Tor.
Es ist die historische Leistung dieses Jürgen Klinsmann, dass er die Stunde genutzt, dass er die Nationalmannschaft „ein Stück weit“ (ein Lieblingswort des Ex) befreit hat aus dem Klammergriff des Altbackenen und der Altvorderen. Löw profitiert davon. Er profitiert von neuen Leuten, neuen Strukturen. Er kann sich auf die sportlichen Inhalte konzentrieren, die nie wirklich Klinsis Sache waren. Er muss sich nicht an dem abarbeiten, was er nie so beherrschen wird wie der Revoluzzer. Eiskalt lächeln: „Oliver Kahn spielt eine sehr, sehr wichtige Rolle im Gesamtbild Richtung 2006. Vielleicht sogar noch länger.“ Langsam versenken. Doch auch das geschah: zum Wohle des deutschen Fußballs, des schöneren deutschen Fußballs.