Charkow. . Die Niederlande und Deutschland spielen am Mittwoch in Charkow. Nicht weit vom Stadion entfernt ist Julia Timoschenko untergebracht. Der Politikerin droht bald der nächste Prozess.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich Alexander Jaroslawski alles ein bisschen anders vorgestellt hat, wenn heute die Fußball-Welt auf sein Stadion blickt. Der „König von Charkow“, der Gäste gerne mit blauer Tuchhose, aufgeknöpftem Hemd und Goldkette empfängt, ist nicht nur Geschäftsmann und Milliardär, sondern auch Eigentümer des FC Metalist Charkow. Das dazugehörige Stadion nahe der Metro-Station „Sportyvna“ hat er gleich mitbauen lassen und zur Eröffnung – sinnigerweise an seinem 50. Geburtstag am 5. Dezember 2009 – saß eine gewisse Julia Timoschenko neben ihm.

Nun ist der Fall der in Charkow in einem Krankenhaus untergebrachten Oppositionsführerin dafür verantwortlich, dass sich Jaroslawski auf der Ehrentribüne beim Spiel Niederlande gegen Deutschland einsam vorkommen muss. So, wie die niederländische Königin Beatrix nicht anreist, machen deutsche Politiker, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel, in seltener Eintracht einen großen Bogen um den ostukrainischen Spielort. Auf politischer Ebene herrscht eine Eiszeit, die nicht mal der Fußball mit seinen verbindenden Kräften aufschmilzt.

Die Ukraine ist weit vom westlichen Stand entfernt

Das Krankenhaus der staatlichen Eisenbahngesellschaft Ukrzalinsniska, in dem Timoschenko liegt, ist fußläufig von der gewaltigen Fanzone am Svobody Square zu erreichen; die Fenster im neunten Stock sind vergittert und mit Folie abgeklebt. Zu Sowjet-Zeiten galt das Eisenbahner-Krankenhaus als führend.

Aber das ukrainische Gesundheitssystem ist so weit vom westlichen Standard entfernt wie das Land von demokratischen Strukturen. Wird dieser Tage für Timoschenko demonstriert, sind die Ordnungskräfte schnell und tatendurstig. Und die Uefa-Funktionäre schauen zu. In Charkow wird Julia Timoschenko am 25. Juni, einem spielfreien Tag, ein zweiter Prozess wegen angeblicher Steuerhinterziehung während ihrer Tätigkeit als Managerin ihres Erdgashandelskonzerns gemacht. Auch der ist, laut Julia Timoschenko, politisch motiviert.

Auch DFB hält sich jetzt zurück

Der Deutsche Fußball-Bund möchte sich in die diffizile Gemengelage nicht mehr einmischen. „Wir haben das Thema frühzeitig aufgegriffen. Ich glaube, wir waren diejenigen in ganz Europa, die am meisten die Stimme erhoben haben“, sagte DFB-Teammanager Oliver Bierhoff vor der Abreise aus Danzig. „Angela Merkel war ja bei uns zu Besuch. Wir wissen, dass das Thema bei der Politik in guten Händen ist.“ Dass sich der DFB-Tross nun in Charkow ganz auf den Fußball fokussieren will, ist verständlich.

Dennoch wird in der Stadt jedem Besucher sofort eine Zerrissenheit deutlich: Verlassene Industriebaracken und brüchige Wohnblocks stehen modernen Einkaufszentren und neuen Elektronikgeschäften direkt gegenüber. In der Metro werden Touristen fast argwöhnisch beäugt. Hier ist das Volk nicht nur geografisch näher an Moskau als an Berlin. Wer Studenten oder Passanten befragt, kann mit ihnen gerne über Fußball und die EM reden. Aber nicht über die Politik. Meist gibt es die verärgerte Replik, dass Julia Timoschenko einst als „Gasprinzessin“ nicht besser gewesen sei. Ende der Ansage.