Philipp Lahm ist der Kapitän der deutschen Nationalmannschaft, er ist ein schmächtiger Athlet und sieht immer ein wenig so aus, als habe er den Stimmbruch noch nicht ganz überwunden. Aber Lahm ist jetzt 28 Jahre alt, ein gestandener Fußballer, und er hat vor der Europameisterschaft 2012 ein paar wichtige und richtige Sätze gesagt. Im Kern: Die Gesellschaft würde es nicht mehr akzeptieren, wenn 23 Fußballer in ein Land reisen, in dem vieles anders ist als bei uns, und keiner von ihnen sagt etwas dazu.
Lahm hat etwas gesagt, er hat unter anderem den Präsidenten der Europäischen Fußball-Union, Michel Platini, dazu aufgefordert, nachdem sein Verband diese EM an Polen und die Ukraine vergeben hat, nun auch mal das Wort zu Menschenrechten und ethischen Standards zu ergreifen. Der Uefa-Chef hat reagiert, wie man es von viel zu vielen Sportfunktionären gewohnt ist: Er hat Lahm gerüffelt. Und weiter geschwiegen.
Politische Fallstricke
Der Sport bewegt sich mit seinen großen Festen längst auf schwierigem Boden. Selbst in Polen wird inzwischen so getan, als habe man mit der Ukraine zufällig einen Mitausrichter an die Seite gestellt bekommen, mit dem man lieber nichts zu tun haben möchte. Der Umgang mit der einstigen Ministerpräsidentin Julia Timoschenko ist nur einer der Fallstricke, in denen sich der Fußball verfangen kann. Er kann für drei Wochen wie unter dem Brennglas den Blick auf Abzocke, Menschenrechtsverletzungen oder einen Oligarchen-Staat im Staat lenken. Aber woran die Politik bis jetzt gescheitert ist, wird der Sport nicht lösen können.
Er kann sich nur möglichst achtbar aus der Affäre ziehen. Die Nationalelf taugt da durchaus als Vorbild: Man möchte diese EM genießen und doch moralisch handeln. Was zählt, ist, dass Lahm und Co. im richtigen Moment etwas Richtiges gesagt haben. Europa verschiebt sich jetzt für drei Wochen nach Osten, und Deutschland bewegt sich in Polen wegen seiner geschichtlichen Verantwortung und in der Ukraine zudem wegen seiner moralischen Standards auf besonderem Boden.
Argentinien 1978
Diese Nationalelf ist nicht nur auf dem Platz, sondern auch in ihrem Auftreten – ausdrücklich auch beim Besuch in Auschwitz – ein wunderbares Beispiel dafür, wie sich Dinge verändern können. Was Reformen bewegen können, wenn sie greifen. 1978 noch hat der DFB bei der WM im von einer Militärdiktatur geknechteten Argentinien Nazi-Oberst Rudel eingeladen. Und ein Spieler, man sagt, es sei Berti Vogts gewesen, erklärte später lapidar, er hätte keine politischen Gefangenen gesehen. Heute würde ein Aufschrei durchs Land gehen.
Schließlich aber ist diese EM vor allem eins: Ein großes Fußballturnier, an dem die Menschen ihren Spaß haben möchten. Der Fußball kann die Welt nicht ändern, aber er kann dafür sorgen, dass wir drei Wochen lang den Atem anhalten. Dass wir in einer Zeit zerfallender Milieus ein gemeinsames Gesprächsthema haben, über alle Differenzen hinweg. Drei Wochen lang wird der Begriff Euro – wenn nichts passiert – positiv besetzt sein. Wann hat die Politik, wann hat die Wirtschaft das zuletzt geschafft?
Der Sport hat sich verändert, sicher nicht immer zum Guten. Diese Nationalelf hat sich verändert, neben dem Platz und auf dem Platz. Eines aber ist geblieben: Nun soll sie bitte auch gewinnen.