Kiew/Warschau.. Am Freitag beginnt die Fußball-Europameisterschaft 2012: Polen ist auf das Turnier eingestimmt. Die Ukraine braucht noch etwas Zeit. Viele in der Ukraine wollen während der EM ein Geschäft machen, doch viele werden keins machen.
Sergej ist ein ordentlicher Mensch. Er hat sogar seine Haare alphabetisch geordnet und bewacht das Eingangstor des Olympiastadions von Kiew. Es ist zwei Minuten vor elf, das Stadion wird aber erst um elf Uhr zur Besichtigung geöffnet. Also sagt Sergej: „Njet!“
Um elf Uhr schiebt er dann den Riegel zur Seite. Man darf eintreten. Am 1. Juli um 20.45 Uhr beginnt dort unten auf dem Rasen das EM-Finale, im Moment wienern Putzkolonnen oben die Sitze. Der rote Teppich, auf dem die Sieger zur Ehrenloge schreiten werden, ist noch ein toter Teppich. Es liegen Kabel auf ihm herum. Vor dem Eröffnungsspiel zur Fußball-EM am Freitag in Warschau laufen sich die Ukraine und Polen als Gastgeberländer noch warm.
Die Busfahrer in Kiew haben Englisch-Unterricht bekommen, um den Fußball-Touristen helfen zu können. Das lässt sich von den Funktionären im Fernsehen als nette Geschichte verkünden, die Realität sieht so aus: Der Bus stoppt, die Tür öffnet sich, einsteigen, der Fahrer sagt „Hello!“ „Hello! Fahren Sie zum Stadion?“ Der Fahrer lächelt und sagt noch einmal: „Hello!“ Eine Viertelstunde später ist klar: Er fährt nicht zum Stadion.
Kiew tut sich noch schwer mit der Begeisterung für die EM. Auf dem Platz vor dem Michaelskloster geht ein Mann spazieren, der einen Rucksack mit einem Aufnäher von Bayer Leverkusen trägt. Viel mehr passiert nicht, der Enthusiasmus schläft noch. Die Studenten, die ihre Zimmer für die Fußball-Fans aus Europa zwangsräumen mussten, grummeln. In Kiew ist das Leben wichtiger als der Fußball, was nicht verkehrt sein muss.
Unten in der Stadt bauen sie derweil die Fanzone auf. Der sechsspurige Chreschtschatyk-Boulevard wird vier Wochen lang zur Fußgängerzone, 100 000 Menschen sollen auf der zwei Kilometer lange Promenade feiern. Jewgen Stepanenko hat dort einen Fußball aufgebaut, der so groß ist, dass er seine Espressomaschine darin unterbringen kann und selber dahinter noch Platz findet. Es ist nicht schlecht, während der EM vier Wochen in einem Fußball zu arbeiten. „Man sitzt auch sehr bequem darin“, sagt Jewgen. Viele in der Ukraine wollen während der EM ein Geschäft machen, doch viele werden keins machen.
Jewgen verkauft einen Espresso an Jane. Jane kommt aus Dallas und verfügt wie alle US-Amerikanerinnen über 32 sehr große, sehr weiße Zähne. Fußball-EM? Hat sie noch nie von gehört. Aber der Fußball, in dem Jewgen sitzt, der sei „really great“.
Fliegt man von Kiew nach Warschau, lernt man, dass Kiew und Berlin etwas gemeinsam haben. Nämlich neue Flughafengebäude, die sie noch nicht benutzen. Die Abfertigung nach Warschau läuft in einem schmalen Gang mit der Höhe eines Heizungskellers aus dem Ruder. Erst gibt es Gedränge, dann Geschubse und dann Streit in der Warteschlange. Die Decken hängen so tief, dass der Ärger nicht verfliegen kann. An dieser Stelle des alten Terminals möchte niemand stehen, wenn 20 000 englische Fans nach einer Niederlage aus Kiew abfliegen.
Eine erfrischende Lockerheit in Warschau
Nach der Landung in Warschau erscheint es, als habe jemand ein Fenster geöffnet. Eine erfrischende Lockerheit zieht ein. Die Autofahrer haben rot-weiße Polen-Fahnen an ihre Wagen gesteckt. Irische Fans haben sich Wohnungen am Alten Marktplatz gemietet und aus den Fenstern Transparente in Grün und Weiß gehängt, auf die sie geschrieben haben: „Something that I believe in“ – Etwas, an das ich glaube.
Die Transparente flattern im Abendwind, und die Iren jonglieren mit einem kleinen Fußball zwischen den Tischen der Restaurants auf dem Markt. Einer hat sich in eine irische Fahne eingehüllt wie in Brokat.
Ein paar hundert Meter weiter erhebt sich in der Altstadt das Bristol. Vor der Tür des alten Nobelhotels stehen Wachmänner, die aussehen wie Wachmänner überall auf der Welt aussehen. Würde man ihnen die Sonnenbrillen wegnehmen, würden sie wahrscheinlich innerhalb einer Stunde sterben.
Natürlich nimmt ihnen niemand die Sonnenbrillen weg, und so bewachen sie weiter den Eingang, hinter dem die russische Mannschaft wohnt. Tatsächlich tauchen auf einmal ein paar Männer in Trainingsanzügen vor dem Hotel auf. Es sind russische Spieler, Kinder holen sich Autogramme.
Plötzlich heulen Sirenen. Von fünf Polizeiwagen mit Blaulicht eskortiert rauscht der polnische Mannschaftsbus am Hotel Bristol vorbei. Die Russen schauen nicht hin, die Kinder sind längst an den Straßenrand gelaufen und winken. Aus dem Bus winkt niemand zurück. Man erkennt hinter den abgedunkelten Scheiben nur die Silhouetten der polnischen Nationalspieler. Sie kommen vom Training und fahren zu ihrem Hotel am anderen Ende der Stadt.
Der Bus und die Eskorte sind weg. Die Russen auch. Für einen Moment kehrt Stille ein. Es wird Zeit, dass es am Freitag endlich losgeht.