Tourrettes. . Vielen etablierten Profis aus dem deutschen EM-Team reicht es nicht mehr, auf dem Weg zu glänzen, der in Richtung Titel führt. Sie wollen ihr Werk auch vollenden. Für all die, die schon am WM-Sommermärchen 2006 teil hatten, drängt die Zeit. DFB-Kapitän Philipp Lahm findet, man sei „im perfekten Fußballalter“.

Als Oliver Bierhoff sich der Aufgabe widmete, aus dem Lager der Sponsoren zu berichten, saß der Teammanager der Nationalelf mit dem Rücken zu einem Riesenposter. Auf dem Riesenposter zu sehen: Fünf Typen, die beim Casting für einen neuen Dirty-Harry-Film allesamt gute Chancen auf die Titelrolle hätten. So extrem schneidig, extrem wild entschlossen und extrem missgelaunt erlebt man Manuel Neuer, Mario Götze, Mesut Özil, Mario Gomez und Mats Hummels ansonsten selten. Aber beim „Wunsch einiger Sponsoren, uns jubelnd zu zeigen“, sei man „ein bisschen eingeschritten“, erklärte Bierhoff im Chateau de Camiole im südfranzösischen Callian. Und was bleibt den Marketingstrategen dann schon noch, um via Riesenposter diese Botschaft zu transportieren: Wir wollen den EM-Titel. Koste es, was es wolle.

Lahm fordert den EM-Titel

Philipp Lahm, der noch immer abwesende Kapitän, hatte die Devise schon vor dem Aufbruch ins Callian nahe gelegene Trainingscamp in Tourrettes ausgegeben: In Polen und der Ukraine geht es einzig und allein um den Pott. Lukas Podolski hat im Regen von Frankreich verkündet, es sei „den Menschen genug mitreißender Fußball“ geboten worden. Es müsse jetzt der Triumph her. Für Irritationen jedoch hatte es bereits 2010 gesorgt, dass Nationalspieler nur noch das Ziel im Auge haben und nicht mehr den Weg. Nach der WM in Südafrika, nach Platz drei und großen Auftritten, warteten die Fans auf dem Flughafen von Frankfurt. Deutschland wollte feiern, seine Begeisterung zeigen, seine Dankbarkeit, seine Zuneigung. Und die Helden verschwanden durch die Hintertür. Enttäuscht, weil sie nicht erreicht hatten, was sie erreichen wollten.

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Koste es, was es wolle? Nach dem Finale der Champions League, nach der Niederlage des überlegenen FC Bayern gegen das abgebrühte Chelsea, ist sie wieder aufgebrandet, die Frage: Haben wir, haben deutsche Mannschaften an Schönheit gewonnen und dafür an Effizienz verloren, an dieser Effizienz, die über Jahrzehnte hinweg Titel einbrachte? Seit 2001, seit dem Finalsieg der Bayern gegen Valencia in der Königsklasse, hat kein deutsches Klubteam mehr einen internationalem Thron erstiegen. Die Nationalelf erwirtschafte sogar zuletzt 1996, bei der EM in England, einen herausragenden Wert für die Statistik. Läuft also etwas falsch in der Am-Ende-gewinnt-immer-Deutschland-Nation, läuft etwas falsch im Staate Löw?

Löw kann „kein Alles-oder-Nichts-Jahr“ ausmachen

Der Bundestrainer ist nicht bekannt dafür, bei aufgeregten Diskussionen eigene Positionen aufzugeben. Joachim Löw glaubt, dass seine Mannschaft wegen ihrer Qualität in den Kreis der EM-Favoriten gehört. Er glaubt, dass Erfolg über offensiven, kreativen, intelligenten Fußball zu erreichen ist. Und er kann in diesem Jahr 2012, in diesem EM-Jahr, „kein Alles-oder-Nichts-Jahr für unsere Nationalelf“ ausmachen, weil die Talente-Quelle so mächtig sprudelt wie selten zuvor und sich deshalb – wenn nicht jetzt, dann bald – zwangsläufig auch Edelmetall für die Vitrine ansammeln werde.

Dem fußballphilosophischen Werk des Bundestrainers wird also kein Kapitel mit der Überschrift „Auf Biegen und Brechen“ hinzugefügt werden. Für den 27-jährigen Lahm aber, für den 26-jährigen Podolski, auch für den 27-jährigen Per Mertesacker, den 27-jährigen Bastian Schweinsteiger und den 33-jährigen Miroslav Klose, für all die, die schon am WM-Sommermärchen 2006 teil hatten, drängt die Zeit. Lahm findet, man sei „im perfekten Fußballalter“, in dem Alter, in dem man nicht mehr damit zufrieden sein dürfe, auf dem Weg Euphorie beim Publikum zu erzeugen. Man müsse nun auch im Ziel ankommen. Mit zum Himmel gereckten Händen. Natürlich.

Wenn die Latte, mit der die Fans in den letzten Jahren gemessen haben, ins Feuer geworfen wird, kann allerdings enormer Druck entstehen. Mats Hummels hat schon vorbeugend für ein wenig Entlastung gesorgt. Bei dem 23-Jährigen ist die Erinnerung daran, wie es sich anfühlt, das Band zu zerreißen, als Erster im Ziel zu sein und die Hände fliegen zu lassen, noch ganz frisch. Meister und Pokalsieger mit Borussia Dortmund. Einerseits. Andererseits hat er mit dem BVB durch das frühe Aus in der Champions League erfahren: „Drei Lattentreffer zählen nicht gegen einen Treffer des Gegners. Ein bisschen Glück ist auch vonnöten.“