Herzogenaurach. Bei der EM 2016 scheiterte Deutschland im Halbfinale, beim Wiedersehen ist Frankreich noch stärker. Doch die DFB-Elf ist selbstbewusst.
Einer, zwei, drei Pfiffe, und dann ist alles vorbei. Thomas Müller schlägt die Hände vors Gesicht. Joshua Kimmich dreht mit leerem Blick eine Wasserflasche in den Händen. Toni Kroos steht gebeugt im Mittelkreis, die Hände auf die Knie gestützt. Sie alle wissen: Der große Traum ist geplatzt, der amtierende Weltmeister Deutschland hat seine Favoritenrolle nicht bestätigen können, ist im Halbfinale der Europameisterschaft 2016 an Frankreich gescheitert. 0:2 heißt es nach 90 Minuten.
„Ich kann mich ziemlich gut erinnern an das Spiel“, sagt Toni Kroos. „Es war ein 50:50-Ding, das wir nicht unbedingt verlieren mussten.“ Fünf Jahre sind vergangen seitdem, und im ersten EM-Spiel nach dieser bitteren Niederlage geht es – wieder gegen Frankreich (Dienstag, 21 Uhr/ZDF). Die Vorzeichen allerdings haben sich deutlich gedreht seitdem. „Frankreich ist amtierender Weltmeister und nochmal stärker als damals“, sagt Kroos. Und die deutsche Mannschaft? „Wir haben ein paar Veränderungen hinter uns. Und ein paar Veränderungen, die dann nochmal verändert wurden.“
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Durch die Rückkehr von Mats Hummels und Thomas Müller sind immerhin sieben Spieler noch im deutschen Kader, die auch damals dabei waren. Ob die Mannschaft aber besser oder schlechter ist als 2016, das kann oder will auch nach zweieinhalb Wochen Vorbereitung noch niemand sagen. Die Rollen im Auftaktspiel aber sind klar verteilt: „Frankreich gehört zu den absoluten Topfavoriten auf den Titel, wir sind vielleicht ein Stück dahinter“, meint Kroos. „Das sagt dann auch alles über die Favoritenrolle in diesem Spiel.“
Erst einmal ankommen im Turnier – das gibt es diesmal nicht. Die DFB-Auswahl begegnet gleich zum Auftakt dem schwerstmöglichen Gegner. Gut möglich, dass der eine oder andere deutsche Abwehrspieler zuletzt etwas unruhiger geschlafen hat, wenn ihm im Traum die Hochgeschwindigkeitsstürmer Kylian Mbappé und Antoine Griezmann begegneten – oder der ebenso wuchtige wie ballsichere Torjäger Karim Benzema, frisch zurückgekehrt aus der Verbannung.
„Der sorgt noch einmal für einen Qualitätssprung“, sagt Kroos, der den Angreifer von Real Madrid bestens kennt. „Ich gönne ihm natürlich die Rückkehr, aber es hat mir nicht unbedingt gefallen. Zum zweiten Spiel hätte auch gereicht.“ Die Revanche für 2016, sie wird durch die Personalie Benzema nicht leichter.
Timo Werner kann sich auch noch an das Halbfinal-Aus erinnern. „Ein sehr interessantes Spiel war das“, sagt der Stürmer, der damals noch kein Nationalspieler war, sondern die Partie im Urlaub am Fernseher verfolgte. Diesmal ist er näher dran, vielleicht in der Startelf, vermutlich auf der Ersatzbank.
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Um Benzema muss er sich allerdings nicht ganz so viele Gedanken machen, er ist ja meist am anderen Ende des Spielfelds unterwegs. Aber auch da wird es nicht einfach. „Sie wären nicht Weltmeister, wenn sie nicht auch eine gute Defensive hätten“, sagt Werner, und zählt die Namen auf: Raphael Varane, Presnel Kimpembe, Benjamin Pavard, Javi Hernandez. Allesamt Leistungsträger bei europäischen Spitzenklubs. Davor N’golo Kanté der derzeit wohl beste Sechser der Welt. Und Paul Pogba, spiel- und zweikampfstarker Ballverteiler.
„Auf dem Papier sind sie stärker, was die Namen angeht“, sagt Innenverteidiger Antonio Rüdiger. „Aber das ist nur Papier.“ Und Papier ist bekanntlich geduldig. Wer dort als Favorit vermerkt ist, hat davon nicht viel, wenn der Ball erst einmal rollt. Das mussten der französische Fußballverband erst vor wenigen Wochen leidvoll erfahren. Seine mit Stars gespickte U21-Auswahl galt als der ganz große Favorit auf den EM-Titel, einschlägige Internetportale kalkulierten mit einem Marktwert des gesamten Kaders von 524 Millionen Euro. Doch statt des glanzvollen Siegs gab es ein unglamouröses Aus im Viertelfinale, und Turniersieger wurde Deutschland – mit einer Truppe international weitgehend unbekannter Spieler und einem Marktwert von 172 Millionen Euro.
Und: Ganz harmoniefrei läuft es derzeit nicht ab zwischen den französischen Topstars mit entsprechend aufgepumpten Egos. 2018 war es Nationaltrainer Didier Deschamps auf beeindruckende Weise gelungen, seine nicht ganz pflegeleichte Truppe auf die gemeinsame Sache einzuschwören, jeder stellte sich in den Dienst der Mannschaft. Ob das ein zweites Mal gelingen kann, daran zweifelte so mancher Experte vor dem Turnier.
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Und tatsächlich gab es einige Reibereien. Olivier Giroud, im Galasturm meist nur zweite Wahl, motzte nach einem Testspiel, dass er zu wenig Zuspiele bekam. Mbappé fühlte sich angesprochen, wollte auf einer Pressekonferenz zurückschießen und musste von Deschamps wieder eingefangen werden.
Aus dem deutschen Lager sind solche Verwerfungen nicht bekannt. Dort wundert man sich manchmal eher, warum die eigene Mannschaft im eigenen Land derart pessimistisch beäugt wird. Thomas Müller etwa verweist auf das Champions-League-Finale, in dem vier deutsche Nationalspieler beim Anpfiff auf dem Platz standen. „Wir tun uns immer schwer, uns selbst zu mögen, aber ein bisschen was kann der deutsche Fußball scheinbar doch“, sagt er.
Das Selbstvertrauen ist groß im deutschen Kader, es ist in der Vorbereitung eher noch gewachsen. Es hat sich eine Mannschaft gefunden, die an ihre Chance beim Turnier glaubt, auch gegen den Weltmeister. „Wir brauchen uns absolut nicht verstecken, wir haben große Qualität im Kader“, sagt Kroos. „Frankreich hat die natürlich auch. Jetzt spielen wir mal das Spiel und sehen, was dabei rauskommt.“
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In der Vorbereitung waren die Qualitäten des Gegners natürlich Thema. „Aber wir müssen auch gegen Frankreich versuchen, unsere Stärken auf den Platz zu bekommen und vor allem über uns und unsere Spieler reden“, meint Co-Trainer Marcus Sorg. „Wir müssen unsere Spieler auch nicht starkreden. Sie sind stark und haben ausreichend Selbstvertrauen.“ So wie Antonio Rüdiger: „Sie können ruhig Favorit sein, aber wir müssen das Spiel diktieren“, sagt der. „Wir können das, wir haben die Qualität dafür, wir sind bereit.“
Bereit, den Spieß umzudrehen – und beim Wiedersehen nach fünf Jahren selbst dem Favoriten und Weltmeister eine schmerzhafte Niederlage zuzufügen.