Essen/Washington. Der ehemalige DFB-Kapitän Jürgen Klinsmann spricht im Interview über die EM 1996, den Geist der Mannschaft und einen umstrittenen Saunabesuch.

Wie man eine Europameisterschaft gewinnt, weiß Jürgen Klinsmann. Vor 25 Jahren stemmte der ehemalige Stürmer als Kapitän der deutschen Nationalmannschaft den Europameister-Pokal in die Luft, den ihm kurz zuvor die Queen übergeben hatte. Damals galt Deutschland nicht als Favorit, ähnlich wie in diesem Jahr. Zum Start der Europameisterschaft 2021 spricht der 56-Jährige über den Mannschaftsgeist von 1996, den Badehosen-Skandal und das Ende von Bundestrainer Joachim Löw.

Herr Klinsmann, haben Sie nach 1996 noch mal die Queen getroffen?

Jürgen Klinsmann: Nein, leider nicht mehr.

Was hat sie Ihnen damals gesagt, als Sie den Pokal entgegengenommen haben?

Jürgen Klinsmann: Sie hat mir auf jeden Fall gratuliert, an die genaue Wortwahl kann ich mich nicht mehr erinnern. Zumal ich - bei allem Respekt vor der Queen - auch eher auf den Pokal fixiert war. Den wollte ich endlich in den Händen halten.“

Welche Erinnerungen ploppen 25 Jahre nach dem Finale auf?

2020: Jürgen Klinsmann als Trainer bei Hertha BSC.
2020: Jürgen Klinsmann als Trainer bei Hertha BSC.

Jürgen Klinsmann: Zunächst: Kaum zu glauben, dass dies schon 25 Jahre her ist. Die Bilder sind festgebrannt, unvergessliche Erlebnisse. Das Mannschaftshotel in Mottram Hall, die Spiele in Manchester und im Wembley-Stadion, die sagenhafte Stimmung in den Stadien – aber vor allem auch Momente, in denen sich der Zusammenhalt dieser Mannschaft gezeigt hat.

Sie zählten damals nicht zu den Favoriten, aber haben gewonnen. Warum?

Jürgen Klinsmann: Vor allem, weil Berti Vogts es geschafft hat, aus diesen Spielern ein echtes Team zu machen. Einige von uns waren noch frustriert wegen der WM 1994 in den USA, bei der wir den Titel leichtfertig verspielt haben. Das sollte uns nicht noch einmal passieren.

Wie ist trotzdem der häufig beschriebene Geist der Mannschaft entstanden?

Jürgen Klinsmann: Berti Vogts hat da sehr gut die Fäden gezogen und sehr gute Rahmenbedingungen geschaffen, in denen dieser Geist entstehen konnte. Wie gesagt: Wir hatten alle noch die WM in den USA im Hinterkopf. Aber vor allem hatten wir Spieler mit einer richtigen Sieger-Mentalität. Und in dieser Stimmung konnten wir uns während des Turnieres steigern – was auch der Stimmung im Team zugute kam.

Es heißt, der Star war damals die Mannschaft.

Jürgen Klinsmann: Das ist eher eine Phrase. Was ist ein Star? Wir hatten herausragende Spieler in der Mannschaft. Matthias Sammer, Andy Köpke, Thomas Häßler, Thomas Helmer, Jürgen Kohler, Oliver Bierhoff – aber alle ordneten sich dem großen Ziel unter. Natürlich hatten wir auch Verletzungspech, so dass eine „Jetzt-erst-recht-Stimmung“ aufkam.

Aber welche Spieler haben denn besonders überzeugt?

Jürgen Klinsmann: Alle. Einen solchen Titel holst du nur, wenn jeder im Team seine Aufgabe kennt und seine Rolle zu hundert Prozent erfüllt. Wir waren alle geprägt vom Willen, dieses Turnier zu gewinnen. Von der Nummer eins bis zur Nummer 22.

Welchen Anteil hatte der damalige Bundestrainer Berti Vogts an dem Erfolg?

Jürgen Klinsmann: Natürlich den allergrößten. Er war der Trainer und er war zuständig für alles. Ohne wenn und ohne aber. Berti Vogts hat diese Mannschaft souverän durch das Turnier geführt und auf Verletzungen im Team sehr gut reagiert. Er hat einfach immer die richtige Entscheidung getroffen.

Wie haben Sie sich als Kapitän eingebracht?

Jürgen Klinsmann: Im Rahmen meiner Möglichkeiten. Natürlich bin ich mit gutem Beispiel vorangegangen, weil ich unbedingt dieses Turnier gewinnen wollte. Aber entscheidend ist bei einem solchen Turnier nicht, was der Kapitän sagt, sondern ob die anderen auch darauf hören, was der Kapitän sagt. Aber das lief wirklich gut.

Lassen Sie uns über ein paar Anekdoten von 1996 reden. Ein Saunabesuch hat damals für Schlagzeilen gesorgt. Warum?

Jürgen Klinsmann: Ich war auf alle Fälle bei der Geschichte nicht dabei (lacht). Einige Spieler wollten im Mannschaftshotel in die Sauna, wußten aber nicht, dass man in England nicht nackt sondern mit Badekleidung in die Sauna geht. Andere Hotelgäste haben sich dann beschwert und es gab kurz ne Aufregung. Aber das war schnell erledigt. Die Spieler, die in die Sauna gingen, wussten anschließend auch, dass man in England nur mit Badehose in die Sauna geht.

In ihrem Mannschaftshotel sollen ständig Hochzeiten gefeiert worden sein.

Jürgen Klinsmann: Es war schon einiges los in Mottram Hall. Aber das Hotel war so abgelegen, dass mir persönlich Abwechslungen eher willkommen waren. Ich war froh, wenn ich im Hotel mal andere Menschen sah – sonst wäre es schon arg eintönig gewesen. Die Regeneration war jedenfalls nicht gestört – sonst hätten wir den Titel nicht gewonnen.

Um auf die aktuelle EM zu blicken. Was trauen Sie der deutschen Elf zu?

Jürgen Klinsmann: Natürlich alles. Es muss immer das Ziel einer deutschen Mannschaft sein, ein Turnier, an dem sie teilnimmt, gewinnen zu wollen. Wohl wissend, dass dies nicht immer klappt. Aber man trainiert doch nicht zwei, drei Wochen für ein Turnier und sagt dann: Ich bin mit dem Halbfinale zufrieden. Die deutsche Mannschaft ist nicht der Top-Favorit. Aber Griechenland war 2004 von der Favoritenrolle viel weiter weg als Deutschland 2021 – und hat am Ende doch das Turnier gewonnen.

Haben Sie Kontakt zu Bundestrainer Joachim Löw?

Jürgen Klinsmann: Wir schreiben uns regelmäßig und telefonieren auch. Aber jetzt vor dem Turnier beschränkt es sich auf Whats-App.

Was wünschen Sie ihm?

Jürgen Klinsmann: Einen wunderbaren Abschied nach dieser langen Zeit als Bundestrainer.

Was bleibt von ihm?

Jürgen Klinsmann: Ganz viel. Er hat das fortgeführt, was wir gemeinsam 2004 bis 2006 entwickelt haben und somit auch dafür gesorgt, dass der deutsche Fußball international ein besseres Ansehen hat. Wo ich international hinkomme, spricht man nur mit Hochachtung von der deutschen Nationalmannschaft und das ist sein Verdienst.

Sie haben beides erlebt, was ist angenehmer: Ein großes Turnier als Spieler oder als Bundestrainer zu bestreiten?

Jürgen Klinsmann: Kein Vergleich. Die Zeit als Spieler ist die angenehmste, weil man nur die Verantwortung für sich selbst hat. Als Trainer musst du alle Entscheidungen treffen und bist fast rund um die Uhr in diesem Entscheidungsdruck gefangen.

Die DFB-Elf hat sich seit 1996 verändert. Sie kommt jetzt bunter daher, sie positioniert sich öffentlich gegen Rassismus. Wie finden Sie das?

Jürgen Klinsmann: Ich hoffe mal, dass alle Fußballfans dies gut finden. Für mich ist das eine Selbstverständlichkeit, weil es keine Unterschiede aufgrund der Herkunft oder des Aussehens geben darf. Nicht im Fußball – und nicht im normalen Leben.

Wie geht es mit Ihnen nach dem Aus bei Hertha BSC weiter?

2006: Jürgen Klinsmann tätschelt David Odonkor als Bundestrainer bei der WM im eigenen Land den Kopf. Im Hintergrund steht der damalige Assistent Joachim Löw.
2006: Jürgen Klinsmann tätschelt David Odonkor als Bundestrainer bei der WM im eigenen Land den Kopf. Im Hintergrund steht der damalige Assistent Joachim Löw.

Jürgen Klinsmann: Ich bin völlig entspannt in Kalifornien, rundum zufrieden. Natürlich habe ich auch noch viel Energie und wenn alles paßt, bin ich auch wieder bereit für eine neue Aufgabe als Trainer. Jetzt bin ich aber zunächst bei der EM als Experte für die BBC in Manchester und London. Darauf freue ich mich, mir die Arbeit bei der BBC und auch die Zeit in England immer richtig Spaß macht.

Sind Sie 25 Jahre nach dem Erfolg bei der EM mit Ihrer Karriere nach der Karriere zufrieden?

Jürgen Klinsmann: Absolut. Ich habe ja schon als Spieler in Deutschland, Italien, Frankreich und England gespielt, war dann Trainer bei zwei Nationalmannschaften und zwei Vereinen mit Höhen und bei den Vereinen natürlich auch mit Tiefen. Ich habe neue Erfahrungen gemacht und viel dazu gelernt. Ich habe neue Herausforderungen angenommen und bin jetzt beispielsweise im Besitz des Hubschrauber-Pilotenscheins. Ich habe daneben ein hervorragend funktionierendes Kinderhilfswerk ins Leben gerufen und mit aufgebaut, in dem derzeit alleine in Geislingen und Esslingen täglich jeweils 80 Kinder betreut werden, und das auch in Osteuropa gute Arbeit macht. Das passt schon alles.