Marseille/Berlin. Nach der EM 2016 ist vor der WM 2018: Nicht alle haben sich empfohlen. Eine Turniereinzelkritik mit Ausblick.

Sepp Herberger hat irgendwann erkannt, dass der Fußball stets rastlos voranschreitet: „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“, hat Herberger, der mit Deutschland 1954 zum ersten Mal Weltmeister wurde, gesagt. Und das gilt heute auch noch für Joachim Löw. Der Bundestrainer hat es verpasst, nach dem Weltmeister- auch den Europameistertitel zu gewinnen. Im Halbfinale war gegen Frankreich Schluss. Aber in Abwandlung des Herbergerschen Diktums heißt es nun für Löw: Nach der EM 2016 in Frankreich ist vor der WM 2018 in Russland, wo der 56-Jährige seinen Weltmeistertitel verteidigen will. Bei der EM konnte Löw bereits Erkenntnisse gewinnen, auf wen er in Russland setzen kann, und wer bis dahin noch Argumente sammeln muss. Eine Turniereinzelkritik mit Ausblick.

  • Manuel Neuer: Wird in Russland 32 Jahre alt sein und damit laut Mats Hummels noch 23 weitere Jahre der beste Torwart der Welt bleiben. Der Münchner spielte eine starke EM, was nur deshalb nicht hinlänglich gewürdigt wurde, weil man von ihm nichts anderes mehr erwartet. Neuer ist der Immer-Überzeuger. Prognose Russland: Wird das deutsche Team als Kapitän durchs Turnier führen, wie er das schon in großen Teilen der EM tat. Verletzt er sich nicht, dürften seine Statthalter Bernd Leno und Marc André ter Stegen wieder nur Trainingspartner sein.
  • Joshua Kimmich: Kam, sah, und spielte den jungen Philipp Lahm. Erkennt der kluge 21-Jährige mit dem schlummernden Führungsspielergen, dass seine wahre Chance nicht im Mittelfeld, sondern rechts in der Abwehrkette liegt, winkt ihm eine vielversprechende Perspektive in der Nationalelf. Muss dafür allerdings auch noch etwas nachreifen.Prognose Russland: Anführer einer neuen Generation.

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  • Jerome Boateng: War die neue Wade der Nation und trotzdem der beste deutsche Spieler der EM. Reifte zum Anführer der aktuellen Generation. Prognose Russland: Vizekapitän, Weltklasse-Innenverteidiger, als Kabinen-DJ aber in Rente.
  • Mats Hummels: Nicht so auffällig wie Boateng, aber ebenso unersetzlich. Wird dafür sorgen, dass es zukünftig wieder einen Bayern-Block in der Nationalelf gibt. Prognose Russland: Bildet mit seinen Bayern-Kollegen Neuer, Boateng und Kimmich erneut die beste Abwehr der Welt.
  • Jonas Hector: Rasanter Aufstieg, gutes Turnier mit bestandener Reifeprüfung beim Elfmeterschießen gegen Italien. Der Linksverteidiger muss sich jedoch dringend überlegen, ob nicht ein Wechsel zu einem größeren Klub als den 1. FC Köln seiner Entwicklung zuträglich wäre. Prognose Russland: Gelingt auch der nächste Entwicklungsschritt des 26-Jährigen, kann er wieder ein verlässlicher Adjutant sein.
Grillmeister, Dirigenten und Feinfüßige 
  • Sami Khedira: Ideeller und materieller Wert klafften beim 29-Jährigen auseinander. Als Anführer und Ratgeber für Löw wichtig, als Löcherstopfer im Mittelfelfd aber zunehmend ersetzbar. Sein größter Gegenspieler bleibt sein eigener Körper. Prognose Russland: Könnte ein neuer Fall Schweinsteiger werden. Die WM 2018 wird sein letztes Turnier.
  • Bastian Schweinsteiger: Der Kapitän kämpfte sich noch ein letztes Mal zurück nach zwei Knieverletzungen. Stabilisierte gegen Italien, wurde zur tragischen Figur gegen Frankreich, als er einen Elfmeter verursachte. Einer der komplettesten deutschen Spieler aller Zeiten, aber leider über seinem Zenit. Prognose Russland: Schaut sich das Turnier am heimischen Grill an.
  • Toni Kroos: Passmaschine, Tempomat und coole Socke im Team. Wird in seiner Karriere vermutlich nie wieder ein richtig schlechtes Spiel machen. Der 26-Jährige muss seine Form bis Russland konservieren, wie es ihm nach der WM 2014 gelang. Prognose Russland: Der Dirigent der deutschen Aufführung.

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  • Thomas Müller: Hat den inneren Kompass verloren und dadurch den Weg zum Tor nicht mehr gefunden. War die Symbolfigur der deutschen Diskrepanz zwischen Können und Ergebnis. Der Münchner Humorist, der bei zwei WM-Turnieren zusammen zehn Tore erzielte, aber bei zwei EM-Turnieren kein einziges, wird den Kompass wiederfinden. Prognose Russland: Endlich wieder WM.
  • Mesut Özil: Spielte ein deutlich besseres Turnier als 2014, mit dem deutlich schlechteren Ausgang. Der 27-Jährige ist der Feinfüßigste im Team, aber auch der Launischste. War gegen Frankreich der beste Mann, muss das noch öfter sein. Prognose Russland: Begabter Mitläufer oder Leistungsträger - hängt von seiner Jahresform ab.
  • Julian Draxler: Der einzige Eins-gegen-Eins-Spieler in Löws Sortiment. Hatte leuchtende Phasen (gegen die Slowakei) und schattige (Ukraine). Muss eigentlich Champions League spielen, was ihm der VfL Wolfsburg derzeit nicht bieten kann. Prognose Russland: Bringt er konstant seine PS auf den Rasen, hat er wieder Startelf-Chancen. Muss aber Marco Reus fürchten.
Mario Götze braucht Nestwärme 
  • Mario Gomez: Ein großer Gewinner der EM. Seine Leistungen und das Fehlen im Halbfinale zeigten, dass der DFB-Auswahl ein echter Mittelstürmer guttun kann. Sein Körper hielt ihn auf. Prognose Russland: Wird 32 sein. Braucht nun einen Wechsel zu einem Topklub und zwei gute Jahre, um der DFB-Auswahl erneut gut zu tun.
  • Mario Götze: Der große Verlierer der EM. Stand in der K.o.-Phase nicht mehr in der Startelf. Der 24-Jährige steckt in der tiefsten Krise seiner Karriere. Muss dringend der Spieler werden, der er sein könnte. Will den FC Bayern jetzt doch verlassen. Gut so. Prognose Russland: Ordnet er seine Karriere neu und findet Nestwärme, kann er wertvoll sein. Wenn nicht, nicht.
  • Benedikt Höwedes: Zeigte im Halbfinale gegen Frankreich die schönste Grätsche des Turniers. Ist eher der Grätschen- denn der Aufbauspiel-Typ in der Abwehr, aber ob seiner Vielseitigkeit und Führungsqualität weiter unverzichtbar. Prognose Russland: Für Löw Gold wert.

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  • Lukas Podolski: War trotz andersartiger Meldungen doch nur das Maskottchen bei der EM. Will nach zwölf Jahren trotzdem weitermachen. Guter Typ für den Teamgeist, für die Teamqualität aber verzichtbar. Prognose Russland: Wird das Turnier in Köln am Grill verfolgen.
  • André Schürrle: Stagniert seit 2014. War bei der EM nur in der Rubrik „Transfergerüchte“ auffällig. Ein Wechsel zum alten Ziehvater Thomas Tuchel nach Dortmund könnte aus ihm wieder die Spezialkraft machen, die vor zwei Jahren zum WM-Titel flankte. Prognose Russland: Bankangestellter.
  • Shkodran Mustafi: Erst Torschütze, dann Zuschauer. Macht sich wertvoll, weil er Dreier- und Viererabwehrkette gleichermaßen beherrscht. Prognose Russland: Erst Zuschauer, dann Torschütze.
Leroy Sané wird Kabinen-DJ 
  • Emre Can: Galt mal als Kronprinz Schweinsteigers. Ist aber eher Kronprinz Khediras. Begann gegen Frankreich nervös, war dann aber der erhoffte Löcherstopfer zwischen den Strafräumen. Prognose Russland: Wird weder Schweinsteigers noch Khediras Ersatzmann sein, sondern im Bestfall der von Ilkay Gündogan.
  • Julian Weigl: Hat Kroossche Passqualitäten. Durfte diese bei der EM aber nur im Training zeigen. Prognose Russland: Wird diese bei der WM auch im Spiel zeigen dürfen.

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  • Jonathan Tah: Wurde nachnominiert für den verletzten Antonio Rüdiger – und darf nun ohne EM-Einsatz aber mit neuen Erfahrungen und vier Wochen Verspätung seinen Florida-Urlaub antreten. Prognose Russland: Löst Rüdiger als erste Alternative ab, wenn wieder Mal Boatengs Wade zwicken sollte.
  • Leroy Sané: Der 20-Jährige war in Frankreich das größte, versteckte Versprechen. Geisterte bei der Euro nur elf Minuten lang über den Platz, aber trotzdem durch die Träume der europäischen Topklubs. Sein nächster Karriereschritt wird maßgeblich. Prognose Russland: Beerbt Boateng als Kabinen-DJ und wird zum Shootingstar des Turniers.