Andreas Bock verbrachte im Juni 2012 drei Tage in Donezk. Er suchte Ailton, eine Kneipe und Menschen. Er fand: nichts. Ein Blick zurück im Zorn auf die Stadt, in der Borussia Dortmund heute zum Champions-League-Achtelfinale gegen Schachtjor Donezk antritt.

Vorweg vielleicht dies: Ich liebe die Ukraine. Ein bisschen jedenfalls. Nach Kiew, in diese pulsierende Metropole, würde ich jederzeit zurückkehren. Nach Lwiw sowieso, wunderschöne klassizistische Bauten, prunkvolle Alleen, gut gelaunte Menschen. Sogar Charkiw, tief im Osten des Landes, hat Charme. Eine Stadt wie ein sowjetischer Schachgroßmeister: Geheimnisvoll, nachdenklich, kantig.

Donezk ist anders. Donezk ist der Endgegner.

Ich kam einen Tag vor dem EM-Halbfinale Spanien gegen Portugal an. Bis dahin hatte ich fünf Tage in Lwiw, zwei in Charkiw und die letzten zehn in Kiew verbracht. In Donezk sollte ich im Apartment eines Pfälzer Kollegen unterkommen, der für seinen Arbeitgeber bereits seit dreieinhalb Wochen in der Stadt war, um über die französische Nationalelf und die K.o.-Spiele zu berichten.

Der Pfälzer aus dem Schacht

Der Pfälzer empfing mich mit einem Hamburger Kollegen in einem Restaurant mitten in der Stadt. Er sah nicht gut aus. Er sah aus wie jemand, den man vor ziemlich langer Zeit in den Schacht eines Bergwerks gesteckt hatte und der nun das erste Mal an die Oberfläche gekrochen war.

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"Tag!", sagte ich, und der Pfälzer nickte. Dann erzählte ich von Kiew, von der Sonne und den alten Männern, die nach den Spielen in urigen Eckkneipen saßen, Paprika-Wodka tranken und Wareniki-Teigtaschen mit Preiselbeeren aßen und von früher erzählten.

"Hör auf!", sagte der Pfälzer, und ich nickte. Wir tranken ein Bier. Dann noch eines. Irgendwann setzten sich zwei Engländer zu uns. Sie erzählten einen Witz ohne Pointe, und der Pfälzer stöhnte. Wir verließen das Restaurant, überquerten die Straße, bogen nach rechts, dann nach links ab und legten uns im spärlich eingerichteten Apartment schlafen.

"Du hast alles gesehen!"

Am nächsten Morgen fragte ich den Pfälzer, was man in Donezk gesehen haben sollte. Er lachte höhnisch und sagte: "Du hast alles gesehen!" Dann verschwand er. Auf die Straße. Zum Stadion. In den Schacht. Wohin auch immer.

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Also machte ich mich alleine auf den Weg. Ich wusste, dass Rinat Achmetow in Donezk wohnt. Achmetow ist der reichste Mann der Ukraine und Geldgeber von Schachtar Donezk. Er hat ein Vermögen von 16 Milliarden Dollar und leitet ein undurchsichtiges Firmenlabyrinth. 30, 40 oder 50 Unternehmen soll er besitzen. Für die Firmen verkauft er Stahl oder Kohle. Für Schachtar kauft er Brasilianer.

Bronze-Statue im Leni-Riefenstahl-Stil

Achmetow hatte allerdings keine Zeit, und so machte ich mich auf die Suche nach Sergej Bubka. Der ehemalige Stabhochspringer lebt ebenfalls in Donezk und organisiert hier jedes Jahr im Februar einen Wettbewerb mit den jeweils besten Stabhochspringern der Welt. Ich besuchte sein Denkmal. Eine Bronze-Statue im Leni-Riefenstahl-Stil. Sie steht auf einem Sockel, der 6 Meter und 14 Zentimeter hoch ist. Weltrekordhöhe.

Dann besuchte ich das Stadion des Fußballklubs Metalurh Donezk. Hier soll Ailton einst für ein paar Monate unter Vertrag gestanden haben. Zwei Spiele, ein Tor, so steht es bei Wikipedia.

Keine Situps mit Ailton 

Das Stadiontor stand offen, zwei Bauarbeiter transportierten Dinge mit Schubkarren, ein Mann lag auf der Treppe vor der Geschäftsstelle. Die war geschlossen. Ich fragte also den Mann, ob er Ailton kenne. Er zuckte mit den Achseln. Dann sagte ich "Metalurh" und er streckte den Daumen nach oben. Wir guckten uns noch eine Weile an, dann merkten wir, dass das Gespräch beendet war.

Schließlich bog ein Mann um die Ecke, der ein bisschen aussah wie ein amerikanischer Fitnesstrainer. Ich konnte mir gut vorstellen, dass er mit Ailton früher Sit-ups gemacht hat. Ich fragte ihn, ob er Ailton kenne. Doch er war leider kein Amerikaner, nicht mal Fitnesstrainer, und deswegen blieb auch dieses Mal nichts anderes übrig, als den Daumen zu heben. Zum Abschied sagte er: "Russia!", und ich sagte: "Da!"

Ein Lachen aus 100 Metern unter Tage

Ich hatte mich verlaufen und rief den Pfälzer an. "Was nun?", fragte ich. Er lachte wieder. Laut, röchelnd, depressiv. Ein Lachen aus 100 Metern unter Tage. Ich fuhr mit dem Taxi zurück in die Innenstadt. Im Reiseführer las ich von drei weiteren Attraktionen der Stadt: den 350 Meter hohen TV-Sendemast und das Delphinarium. Das Beste ist allerdings eine Straße, die von Norden nach Süden führt. Sie heißt Artema. Man kann allerhand auf ihr machen. Zum Beispiel sie von Norden nach Süden abgehen und dann wieder umdrehen. Man kann auch einfach stehen und die nicht vorhandenen Menschen beobachten. Irgendwo soll es eine Kneipe geben. Irgendwo auch ein zweites Café.

Danach Schweigen. Danach Artema

Am Abend traf ich den Pfälzer wieder. Er sah schlechter aus als am Morgen. Er hackte seinen Spielbericht in den Laptop, den er für eine Schreibmaschine hielt. Er fluchte auf Donezk, die Ukraine, auf alles, dann schickte er den Bericht ab, und wir drückten uns mit sechs Mann in einen Twingo. Weil der Fahrer, Typ norwegischer Wikinger, die Ausfahrt nicht fand, fluchte der Pfälzer noch ein bisschen mehr. Danach Schweigen. Danach Artema.

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Am nächsten Morgen verließ der Pfälzer Donezk, er hatte seinen Auftrag erfüllt. Ich blieb noch einige Stunden, denn meine Bahn fuhr erst am Abend. Ich ging noch einmal zur Bubka-Statue, und weil sonst nichts los war, holte ich meinen Zollstock heraus und maß den Sockel ab. Es sind nur 6 Meter und 13 Zentimeter. Jemand sollte die Verantwortlichen darauf aufmerksam machen.