Essen. Ex-Nationalspieler Dietmar Hamann spricht im Interview über das Topspiel zwischen dem BVB und Bayern - und analysiert die Krise auf Schalke.
Hinter Dietmar Hamann liegt eine kurze Nacht: Am Abend zuvor hat er als Experte beim Pay-TV-Sender Sky noch die Champions-League-Spiele der deutschen Mannschaften begleitet. Und nun geht der Blick schon wieder voraus auf das Spitzenspiel von Borussia Dortmund am Samstag (18.30 Uhr), das Sky ab 17.30 Uhr überträgt - und zu dem der frühere Bayern-Profi einiges zu sagen hat. Ein Interview über die Chancen des BVB, die Schwächen des FC Bayern, Kritik an Marco Reus - und die Nöte des FC Schalke 04. Laut Hamann fehlt den Königsblauen aktuell Identifikation.
Sie haben als Sky-Experte einige Champions-League-Spiele in dieser Woche gesehen. Welche deutsche Mannschaft hat sie am meisten beeindruckt?
Dietmar Hamann: Es ist schwer, eine herauszuheben. Bei den Bayern war es wieder mal der Siegeswille und dass man immer das Gefühl hatte, dass sie noch einen Gang oder zwei hochschalten können. Borussia Mönchengladbach hat nach zwei späten Rückschlägen zuletzt bei Schachtjor Donezk 6:0 gewonnen. Das ist aller Ehren wert, zumal Donezk bei Real Madrid gewonnen hat. Leipzig hat zuletzt zwei Spiele verloren, gerät dann gegen Paris Saint-Germain in Rückstand und dreht das – gegen den Finalisten des Vorjahres, das ist herausragend. Und die Dortmunder haben so gespielt, wie ich sie mir vorstelle.
Wie meinen Sie das?
Hamann: Du kannst natürlich nicht immer glänzen, gerade in einer Zeit, in der du so viele Spiele hast. Aber dann musst du zumindest diese Konsequenz haben, im gegnerischen und im eigenen Strafraum die entscheidenden Zweikämpfe zu gewinnen. Das war ein souveräner Auftritt gegen eine Mannschaft, die natürlich bestenfalls Mittelmaß im europäischen Vergleich verkörpert – aber so stelle ich mir die Dortmunder vor.
Sind sie reifer und abgeklärter als der Vergangenheit?
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Hamann: Das wird man abwarten müssen. Momentan leben sie natürlich von ihrer Defensive. Und sie haben schon wieder ein Tor nach einer Standardsituation gemacht. Das mag von Reife zeugen, aber dann musst du das natürlich über einen längeren Zeitraum beweisen. Aber natürlich hilft es enorm, wenn du weißt, dass du ohne Gegentor bleiben kannst. Das nimmt den Druck von der Offensive, weil sie weiß, dass ein Tor wahrscheinlich reicht, um das Spiel zu gewinnen. In der Hinsicht macht Dortmund im Moment einen sehr selbstbewussten Eindruck. Spielerisch und von der Intensität her haben sie mir in den letzten Wochen nicht immer gefallen. Aber meine Hoffnung ist, dass durch diese Siege das Selbstvertrauen von Woche zu Woche steigt und dass dann auch die spielerische Note wieder stärker hineinkommt.
Was erwarten Sie nach den Eindrücken unter der Woche für das Topspiel am Samstag?
Hamann: Es Ist natürlich nicht unwichtig, dass du gegen die beste Mannschaft Europas mit relativ breiter Brust aufläufst. Da musst du überzeugt sein, dass du sie schlagen kannst. Es gibt eigentlich keinen besseren Zeitpunkt für Dortmund, gegen Bayern zu spielen. Sie sind in dieser Saison in sieben von neun Spielen ohne Gegentor geblieben, wenn wir den Supercup mal herausnehmen. Natürlich spielen Sie jetzt gegen einen herausragenden Gegner. Aber auch die Bayern haben in den letzten Spielen nicht mit der gewohnten Leichtigkeit gewonnen, weil sie jetzt eine sehr lange Zeit fast ohne Pause durchgespielt haben. Die Dortmunder Chancen auf einen Sieg gegen die Bayern sind so gut wie lange nicht.
Was spricht denn für Dortmund?
Hamann: Für Dortmund spricht, dass sie ein Stück weit frischer sind. Sie haben im Sommer einige Wochen Urlaub machen können, während die Bayern nur ein paar Tage Pause hatten. Da sind diese Spiele im Dreitagesrhythmus körperlich und mental eine unheimliche Belastung. Und wenn die Dortmunder an ihre Defensivstärke glauben, wenn sie mit dieser Konzentration und mit dieser Akribie zu Werke gehen, dann sollten sie die Überzeugung haben: Heute packen wir sie.
Und was spricht für die Bayern?
Hamann: In erster Linie diese unglaubliche Serie. Sie haben in diesem Jahr ja erst ein Spiel verloren, nämlich vor gut einem Monat bei der TSG Hoffenheim. Davor und danach haben sie so gut wie jedes Spiel gewonnen – das ist phänomenal. Aber jeder Lauf geht natürlich auch irgendwann zu Ende. Die Hoffenheimer haben gezeigt: Wenn du energisch bist, wenn du die Bayern spüren lässt, dass du den unbedingten Willen hast, sie zu schlagen, dann hast du eine Chance. Natürlich haben sie immer noch überragende Qualitäten. Aber sie sind jetzt in einer Phase mit vielen Spielen, es wird kälter und unangenehmer – da kann man schonmal in ein kleines Loch fallen.
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In der Vergangenheit ist das eher dem BVB passiert, was immer wieder zu Kritik an Trainer Favre führte – auch von Ihnen. Wie sehen Sie seine Arbeit derzeit?
Hamann: Im Moment gibt es wenig zu beanstanden. Mir hat natürlich nicht gefallen, wie sie in Rom und in Augsburg gespielt haben. Diese Ausreißer nach unten darfst du nicht zu oft haben. Die Leistung in Rom war schlicht nicht zu erklären. Danach sind sie sehr stark wieder in die Spur gekommen, da war Schalke aber auch der richtige Aufbaugegner. Sie haben gegen Zenit und gegen Bielefeld nicht geglänzt, aber sie haben gewonnen – und sie haben fast gar keine Schüsse aufs Tor zugelassen. Das musst du auch gegen diese Mannschaften erst einmal schaffen.
Das spricht für den Trainer.
Hamann: Natürlich. Aber sie hatten in der Vergangenheit immer wieder Situationen, in denen man dachte: Jetzt können sie es packen. In der vorletzten Saison hatten sie neun Punkte Vorsprung auf die Bayern. Und dann hat es immer einen Nackenschlag gegeben. Favre ist den Beweis noch schuldig, dass er in Deutschland einen Titel holen kann. Wenn die Bayern 85 oder 90 Punkte holen, ist das natürlich schwer bis unmöglich. Aber dieses Jahr sind die Bayern verwundbar. Sie haben einen engen Terminkalender, hatten kaum eine Pause im Sommer, haben die Champions League gewonnen. Und wenn du alles gewonnen hast, ist es unheimlich schwer, diese Intensität aufrechtzuerhalten. Am Samstag muss Dortmund von Anfang an zeigen: Das ist unser Tag, das ist vielleicht auch unser Jahr. Und dann kann das auch schnell in die andere Richtung kippen.
Favre wird oft vorgeworfen, dass er seinen Spielern genau diese Einstellung in den wichtigen Spielen nicht vermittelt bekommt.
Hamann: Genau. Den Beweis ist er schuldig. Und davon wird abhängen, was im Sommer oder in der nächsten Saison passiert. Favre ist ein hervorragender Fachmann, ein hervorragender Trainer. Aber du musst dann eben auch mal ein entscheidendes Spiel gewinnen. Am Samstag ist so eins. Ich will nicht sagen, dass dieses Spiel richtungsweisend dafür ist, wie es mit Favre weitergeht. Aber genau das sind die Spiele, in denen du mal eine Leistung sehen willst, nach der du sagst: wow!
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Zuletzt gab es auch Diskussionen um Marco Reus, die sie mit einigen Äußerungen bei Sky mit ausgelöst haben. Wie sehen Sie seine Rolle?
Hamann: Erst einmal: Das war keine Kritik am Spieler Marco Reus. Ich habe damals gesagt: Die Mannschaft ist momentan ohne ihn besser. Das ist ganz normal, denn er kommt aus einer sechsmonatigen Verletzungspause und ist nicht bei 100 Prozent. Und er ist im Moment ersetzbar. Das mag in einigen Wochen anders sein. Ich habe ihm nicht die Qualität abgesprochen. Er ist ein herausragender Spieler, vielleicht der begabteste Offensivspieler, den wir in Deutschland haben. Aber er hat eben eine lange Verletzungshistorie. Und wenn du einen Kapitän hast, der in jedem dritten Spiel fehlt, nimmst du dir eine Stärke. Ein Kapitän ist der verlängerte Arm des Trainers, ein Kapitän muss unumstritten sein. Und ich glaube, dass die momentane Situation auch ihn ein Stück weit belastet. Du musst ja führen als Kapitän, du musst andere ans inspirieren und mitnehmen. Dem Anspruch kann er derzeit nicht gerecht werden, weil er zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist. Vor zwei Jahren war Reus als Kapitän eine gute Wahl, weil er das im ersten Jahr wirklich hervorragend gemacht hat. Aber jetzt im Sommer war es eine andere Situation. Und dann muss man auch mal unpopuläre Entscheidungen treffen.
Damit hätte man im Klub aber ein gigantisches Fass aufgemacht.
Hamann: Aber warum denn? Man muss doch immer schauen, was das Beste für die Mannschaft ist. Es ist auf Dauer kein Zustand, dass der Kapitän im Schnitt jedes dritte Spiel nicht spielt. Und man wusste im Sommer ja, dass er lange verletzt war und dass es mit zunehmendem Alter auch mehr Zeit braucht, wieder in Topform zu kommen. Und mein Gefühl ist, dass das Dortmund momentan eher schwächt.
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Kommen wir von ganz oben nach ganz unten. Nämlich zum FC Schalke. Haben sie eine Erklärung warum die so weit unten stehen?
Hamann: Die eine Erklärung gibt es nicht, dass ist vielschichtiger. Schalke hat ein großes Problem mit dem Thema Identifikation. Du kannst von Clemens Tönnies halten, was du willst, aber ich glaube schon, dass er den Verein ein Stück weit geeint hat und mit Herzblut bei der Sache war. Dann hast du in Fährmann, Naldo, Höwedes in den letzten Jahren immer mehr Identifikationsfiguren hinauskomplimentiert. Einige sind zwar zurück, aber das ist ja nicht mehr das gleiche wie früher. Wer verkörpert denn zurzeit Schalke? Selbst in Mainz, wo wir es am Samstag spielen, gibt es einen Latza, gibt es einen Brosinski. Auch Sportvorstand Rouven Schröder ist lange da. Da habe ich Identifikation, da habe ich einige Jungs die seit Jahren da sind und die für Mainz 05 stehen. Bei Schalke sehe ich da niemanden.
Ist es also Kopfsache oder fehlt es der Mannschaft an Qualität?
Hamann: Von der Qualität ist das keine Mannschaft, die gegen den Abstieg spielen sollte. Aber wenn du über 20 Spiele nicht gewinnst, geht das natürlich auf die Psyche, und die ist im Fußball enorm wichtig. Es ist erschreckend, was auf Schalke passiert. Sie müssen schauen, dass sie irgendwie mal wieder ein Spiel gewinnen, und dass der Knoten platzt und dieser Ballast wegfällt. Man versucht ja immer, positive Dinge zu finden, aber momentan fällt mir zu Schalke nur ein, dass sie schon gegen Dortmund, Bayern und Leipzig gespielt haben.
Warum ist es so schwer, sich aus solchen Abwärtsspiralen zu befreien?
Hamann: Es wird natürlich von Woche zu Woche schwerer, weil mit jedem Misserfolg der Druck größer wird. Du willst ja nicht die Mannschaft sein, die so schlecht ist wie Tasmania Berlin. Dann wächst der Druck. Dann fällt das erste Gegentor und dann verkrampfst du erst recht. Dann hast du Spieler, die nach Leihen zurück sind, obwohl sie nicht wollten und der Klub sie nicht wollte. Damit fehlt der Zusammenhalt, den du brauchst, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Die Bereitschaft, alles für die Fans und den Verein zu geben. Wenn du lange nicht gewinnst, führt das ohnehin zu Konflikten. Man sucht die Schuld ja meist nicht zuerst bei sich selbst, sondern beim Nebenmann. Dann kann sich eine Mannschaft sehr schnell in Einzelteile auflösen, und das passiert gerade auf Schalke.
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Was passiert, wenn man gegen Mainz wieder nicht gewinnt?
Hamann: Dann wird es richtig schwer. Dann weißt du, dass du Union, Stuttgart und Mainz schon hattest und fast nichts geholt hast. Deswegen sind jetzt vor allem die psychologischen Fähigkeiten von Manuel Baum und seinem Trainerteam gefragt. Dreier-, Vierer oder Fünferkette – das ist jetzt nicht entscheidend. Du musst die Köpfe der Spieler frei bekommen, du musst die Vergangenheit hinter dir lassen. Die Herangehensweise muss sein: Wir starten jetzt eine neue Saison mit 28 Spielen. Das Problem ist: In diesen Spielen müssen sie 33 oder 34 Punkte holen, um nicht abzusteigen. Und alle Schalke-Fans und alle Bundesliga-Fans wie ich machen sich jetzt große Sorgen um Schalke, weil man sich fragt: Wo sollen die denn 34 Punkte herholen?