Mainz. Nationalspieler Julian Brandt spricht vor dem EM-Qualispiel gegen Estland über Reife, Verantwortung - und seinen neuen Verein Borussia Dortmund.

Ganz schön groß - das ist der erste Gedanke, wenn man Julian Brandt gegenüber steht. Weil er sich auf dem Platz so schnell und geschmeidig bewegt, fallen die 1,86 Meter dort nie so auf. Brandt ist also groß – aber nicht großspurig: Erst einmal gratuliert er dem Reporter artig zum Geburtstag und verrät zum Entsetzen des deutlich älteren Gesprächspartners, dass auch er mit 23 Jahren langsam die Knochen spürt. Außerdem spricht er im ersten Interview nach seinem Wechsel von Bayer Leverkusen zu Borussia Dortmund über die Gründe für den Transfer, den Neuaufbau im DFB-Team – und wie er sich eine Führungsrolle vorstellt.

Herr Brandt, wie erwachsen fühlen Sie sich?

Julian Brandt: Also, ich merke so langsam schon die Jahre in den Füßen und in den Beinen. Ich bin ja bereits auf viele Spiele gekommen, natürlich nutzt sich da der Körper mit der Zeit etwas ab. Das ist jetzt Meckern auf hohem Niveau, aber ich werde nicht jünger (lacht).

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Es wird derzeit auch viel über den Zustand der verjüngten Nationalelf diskutiert. Wie reif ist die Mannschaft?

Brandt: Man sollte uns schon noch Zeit geben bis zur Europameisterschaft 2020, wir müssen noch weiter zusammenwachsen, uns weiter kennenlernen. Aber die Entwicklung ist bislang positiv. Das Besondere ist, dass jetzt viele Verantwortung übernehmen müssen.

Julian Brandt (v. l.) im Gespräch mit unseren Redakteuren Sebastian Weßling und Marian Laske.
Julian Brandt (v. l.) im Gespräch mit unseren Redakteuren Sebastian Weßling und Marian Laske.

Was hat das für Folgen?

Brandt: Man muss jetzt selbst ein Spieler sein, an dem sich andere orientieren. Das ist nicht so einfach, das muss wachsen und reifen. Es ist ein Schritt, für den wir noch etwas Zeit brauchen.

Auch Sie persönlich? Sie gehören ja mittlerweile selbst mit 25 Länderspielen zu den Erfahreneren.

Brandt: Das stimmt, obwohl es mir selbst manchmal noch so vorkommt, als wäre ich dabei, mich hier richtig einzufinden. Aber daran merkt man, wie die Zeit rennt. Ich bin kein lautstarker Typ wie Joshua Kimmich, auch nicht wie Thomas Müller, der nur am Quatschen ist (lacht). Aber auch ich merke, wie ich jetzt im Training vorangehen möchte. Ich sehe mich in der Pflicht, meinen Beitrag zu leisten, der Mannschaft fußballerisch Halt zu geben.

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Also wollen Sie sich auf dem Platz eher wie Mesut Özil einbringen, dem viele Mitspieler genau diese Fähigkeit bescheinigen?

Brandt: Mesut war jemand, den man zwar auf dem Platz nicht so oft gehört hat, aber er konnte ein Spiel leiten, ihm eine Richtung vorgeben. In manchen Momenten konnte er nur durch einen grandiosen Pass Euphorie auslösen. Das ist auch mein Ansatz. Ich zähle sicher nicht zur Kategorie „Viel rumschreien“.

Sprechen wir über den 2:0-Sieg gegen Weißrussland. Ein klassischer Arbeitssieg?

Brandt: Jeder verlangte von uns, dass wir das Spiel gewinnen, und das haben wir gemacht. Wie erwartet hat sich Weißrussland tief hinten reingestellt. Natürlich hat bei uns noch nicht alles funktioniert, da viele aus einem kurzen Urlaub gekommen sind. Aber dafür, dass wir nur ein paar Tage zusammen trainiert haben, war es schon ganz okay.

Sie saßen auf der Bank und kamen in der 76. Minute. Enttäuscht?

Brandt: Ich gehe nicht mit irgendwelchen Forderungen in einen Lehrgang, deswegen war ich sehr glücklich über die Minuten, die ich spielen durfte.

Aber gegen Estland darf es schon mehr sein?

Brandt: Es ist ja kein Geheimnis, dass jeder Spieler von Anfang an spielen möchte - und auch so lange, wie es geht.

Nun wechseln Sie im Sommer zu Borussia Dortmund, wo der Konkurrenzkampf auch groß ist. Sie hätten es sich im Jahr vor der Europameisterschaft in Leverkusen bequem machen können. Warum das Risiko?

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Brandt: Mir fiel es nicht leicht, Leverkusen zu verlassen. Aber ich hatte das Gefühl, dass ich jetzt Bock auf was Neues habe. Ich möchte mich neu beweisen. Es kann mir guttun, neue Herausforderungen zu bewältigen.

Was ist denn beim BVB anders?

Brandt: Die Qualität ist höher. Die Größenordnung ist noch mal eine andere. Das erkennt man an der Fanszene, aber auch an der internationalen Reichweite. Und der Druck ist beim BVB größer – auch medial. Als Dortmund in der vergangenen Saison viele Punkte Vorsprung und dann eine Schwächephase hatte, wurde darüber sehr breit diskutiert. Als wir mit Leverkusen Zehnter waren, hatte man nicht den Eindruck, dass es außen Empörung darüber gäbe. Dass es in Dortmund anders ist, kann mich prägen. Persönlich, aber auch spielerisch.

Und jetzt gewinnen Sie in der kommenden Saison die Meisterschaft und den EM-Titel?

Brandt: Es wäre natürlich schön, wenn ich meinen Teil dazu beitragen kann, dass es ähnlich spannend wird wie in der vergangenen Saison. Aber ich bin immer relativ vorsichtig bei der Zielformulierung. Ich muss erstmal ankommen, den Verein und die Mannschaft kennenlernen. Dann werde ich ein Gefühl dafür bekommen, was möglich ist. Das weiß der Marco derzeit vermutlich besser. Das ist ja ein offenes Geheimnis, dass er die Meisterschaft holen will.

Der Karriereweg von Julian Brandt

Julian Brandt wurde 1996 in Bremen geboren. 2011 wechselte er mit 15 in die Jugend des VfL Wolfsburg. Im Januar 2014 erhielt er mit 17 einen Profivertrag bei Bayer Leverkusen.

Er spielte in allen Junioren-Nationalmannschaften, wurde 2014 U19-Europameister und 2016 Olympiazweiter. Seit drei Jahren gehört er zur A-Nationalmannschaft.

Sie meinen Marco Reus. Wie verstehen Sie sich mit dem BVB-Kapitän?

Brandt: Wir verstehen uns gut. Wir sitzen hier in der Kabine nebeneinander. Ich habe vor meinem Wechsel viel mit ihm gesprochen. Er hat mir erzählt, dass er sich sehr freuen würde, wenn ich kommen würde. Er ist ein fantastischer Spieler. Marco ist ein Grund, warum ich mich für Dortmund entschieden habe.

Wie fühlt es sich eigentlich an, bei einer Ablösesumme von 25 Millionen Euro noch als Schnäppchen zu gelten?

Brandt: Man darf sicher nicht vergessen, dass das viel Geld ist. Aber in diesem Geschäft werden nun mal hohe Summen gezahlt und ich bin am Ende nur ein Teil des Ganzen.

Um das zu schaffen, haben sie eine Jugend erlebt, die auf das Ziel Profi-Fußball ausgerichtet war. Haben Sie was vermisst?

Brandt: Nein, denn meine Jugend war sehr gut, sehr problemlos. Es war sogar alles noch etwas einfacher, unbeschwerter als jetzt. Vor allem meine Zeit in Wolfsburg war für mich das Fundament für meine Karriere, auch der Schritt nach Leverkusen war wichtig. Egal welche Entscheidungen ich bislang im Leben getroffen habe, sie waren gefühlt immer die richtigen. Das hat mir das Selbstvertrauen gegeben, mich jetzt für Dortmund zu entscheiden.

Liegt das an der richtigen Planung, an harter Arbeit oder gehört vor allem Glück dazu?

Brandt: Natürlich spielt auch Glück eine Rolle. Aber bislang habe ich immer aus dem Bauch heraus entschieden. Ich mache das, worauf ich Bock habe. Das hilft mir. Außerdem habe ich meiner Mutter zu verdanken, dass ich mich nie wirklich schwer verletzt habe.

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Warum Ihrer Mutter?

Brandt: Seitdem ich ein Kind bin, werde ich vor allem osteopathisch und homöopathisch behandelt. Es gibt viele, die das belächeln. Aber ich wurde so aufgezogen, sogar unser Hund bekommt etwas. Und ich habe mir nie was Schweres zugezogen. Das ist die Basis für eine gelungene Karriere. Meine Mutter ist die Basis, warum alles so gut lief.

Sie scheinen sehr familiär zu sein.

Brandt: Ja, ich habe eine absolut intakte Familie, sie gibt mir Rückhalt. Mein Vater berät mich. Mit dem älteren meiner beiden Brüder habe ich in Köln lange zusammengewohnt. Der andere spielt bei Werder Bremen, vielleicht steht er irgendwann mal gegen mich auf dem Platz.

Was bedeutet Ihnen da Heimat?

Brandt: Es gibt die einen, die auf Weltreise gehen. Ich bin im Urlaub möglichst lange zu Hause. Da habe ich Ruhe. Das ist auch ein Privileg.