Moskau/Hamburg. Ab sofort darf Bundestrainer Joachim Löw "extrem experimentierfreudig" sein. Das gefällt ihm. Er hegt den Plan, am Mittwoch gegen Finnland "einige Spieler zu schonen".
Wer sich still zurückzieht, wenn der Sieg rauscht, der gilt schnell als verhaltensauffällig. Und wenn es sich bei dem für Momente, nur für winzige Momente die Stille suchenden Mann um den Bundestrainer handelt, wenn es Joachim Löw ist, der offensichtlich in sich gekehrt einfach sitzen bleibt und nicht dem bekannten Jubelmuster folgt, dann muss nachgehakt werden. Was hat er gedacht, was hat ihn so sehr bewegt, dass es sich nicht sofort in Sprache fassen lassen wollte?
In diesem Fall nach Auskunft des Bundestrainers die Arbeit, die in Zukunft zu erledigen sein wird: Luschnki-Stadion in Moskau, noch vibriert es, noch lärmt es, noch feiern die Spieler und mitgereisten deutschen Fans den 1:0-Triumph gegen die Russen und die vollendete Qualifikation für die Weltmeisterschaft, und Joachim Löw „überlegt sich die Aufstellung für Mittwoch gegen Finnland”.
Bundestrainer als Bundesbaumeister
Es ist unwahrscheinlich, dass hier eine Ironiefalle ausgelegt wurde. Löw hegt den Plan, „einige Spieler zu schonen” bei der letzten Partie der Qualifikation, er will „einigen jungen Spielern ihre Chance geben”, und dieses rein ergebnis- und zielorientierte Denken, es ist dem Herrn im schwarzen Rolli ein wenig fremd. Muss sein, manchmal, aber vor allem versteht sich der Bundestrainer als Bundesbaumeister, als der Architekt einer Mannschaft, die erst, und das betont er gern, im Turnierjahr und vor allem in der Schlussphase der Vorbereitung, im Mai 2010, reif sein soll, vielleicht sogar titelreif.
Gegen die Finnen geht es in der prall gefüllten Hamburger Arena also nicht um nichts und auch nicht nur darum, Fähnchen zu schwenken und dem WM-Reiseführer Jogi zu huldigen. Es geht darum, einen forcierten Prozess der Personalentwicklung in seiner Frühphase zu beobachten. Das kann spannend sein, denn Löw behauptet von sich: „In solchen Spielen bin ich auch mal extrem experimentierfreudig.” Bedeuten könnte dies vier Tage nach dem Kraftakt von Moskau und bei weiteren Tests, dass auf vielen Positionen, die mit eindeutig bester Qualität ausgefüllt sind, die Zweitbesetzungen vorspielen dürfen. Für Michael Ballack, den Kapitän, fehlt der Schattenmann, der sich für den Einsatz im Licht aufdrängt, und doch muss der Ernstfall Ausfall geprobt werden. Philipp Lahm, Per Mertesacker, Bastian Schweinsteiger, Lukas Podolski, Miroslav Klose, auch Mesut Özil und Rene Adler dürften etabliert sein im Kreis der ersten Elf und könnten folglich in die kurze Pause geschickt werden.
Dass Özil es sogar fast ohne Probezeit zur Festanstellung gebracht, dass der Bundestrainer für den hochbegabten 20-Jährigen das lange wie die einstige sowjetrussische Staatsdoktrin gehandhabte 4-4-2-System zum 4-2-3-1 variiert hat, verfestigt den Eindruck der vergangenen Monate: Löw verkündet Flexibilität und Experimentierfreudigkeit nicht folgenlos. Er hat schließlich die Abstimmung auf die Fähigkeiten von Özil vorgenommen. Aber missionarisch beseelt, selbstbewusst bis zur Sturköpfigkeit bleibt er, wenn er überzeugt ist von einem Spieler. Jerome Boateng hat er in der bedeutenden Begegnung mit den Russen auf den Kunstrasen gebeten und trotz zahlreicher Fehler und Gelb-roter Karte in Schutz genommen: „In den letzten Monaten hat er große Schritte nach vorn gemacht und gehört jetzt zum Kader.”
Der U-21-Europameister ist allerdings auch besonders interessant wegen seiner Dreifachqualifizierung. In der Devensive rechts, in der Innenverteidigung und vor der Abwehrzentrale kann er spielen; auf drei von zumindest vier Positionen, deren endgültige Besetzung noch immer ungeklärt ist. Mit dem Hoffenheimer Andreas Beck wird der Bundestrainer noch auf der rechten Flanke eine personelle Variante weiter verfolgen. Den derzeit angeschlagenen Stuttgarter Sami Khedira wird er in den im November anstehenden Freundschaftspartien gegen Ägypten und Chile vor der Abwehr aufbieten.
Vor allem aber war es Löw nach der stillen Minute auf der Trainerbank ein Anliegen, für einen seiner Auserwählten zu plädieren, an dessen Nominierung sich nach einem möglichen Misserfolgsfall die Kritik an seiner eigenen Person aufgerichtet hätte. Cacau, der den Platz besetzte, in den Stefan Kießling mit öffentlicher Macht hineingehievt werden sollte. Der Cacau, so der Bundestrainer, der habe ihm sehr gut gefallen. Im Training. Zunächst einmal.