Moskau/Hamburg. Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft erreicht mit einem 1:0-Sieg in Moskau das Ziel WM-Teilnahme souverän. Bundestrainer Joachim Löw will eine Mannschaft moderner Prägung schaffen.
In Moskau gibt es Matroschkas in jedem Souvenirshop zu kaufen, und weil der Markt frei und wild geworden ist in der post-sowjetischen Ära, tragen die Figuren mit den Figürchen in ihren Bäuchen nicht mehr nur das Gesicht der russischen Bauersfrau. Guus Hiddink gibt es jetzt auch, den Niederländer, der als Trainer die Nationalmannschaft des weiten Landes tiefe Spuren hinterlässt. Sogar nach der 0:1-Niederlage gegen die Deutschen und dem Scheitern an der direkten Qualifikation für die Weltmeisterschaft machte sich der Vielsprachige um die Kultur seiner Gastgebernation verdient. Englisch parlierte er über die Qualität des Gegners, und mittendrin streute er ein deutsches Wort ein, das dessen herausragende Eigenschaft bündeln sollte: Durchschlagskraft.
Weil Hiddink seine Dolmetscherin angewiesen hat, diesen klangstarken Begriff nicht zu übersetzen, sondern zu übernehmen, könnte es sein, dass er länger überdauern wird als alle Guus-Matroschkas, so wie Kapellmeister oder Büstenhalter, Wörter, mit denen sich das Russische schon bereichert hat. Durchschlagskraft. „Seit Jahrzehnten schon”, erklärte Hiddink, verfüge die Nationalelf in den wenigen Momenten, in denen es im Fußball wirklich um alles geht, über die Kraft, sich bis zum süßen Ende zu quälen, sich durchzuschlagen. Und hatte denn je zuvor irgendeine nationale Auswahl in Russland ein WM-Qualifikationsspiel gewonnen? Nein, da mussten erst die Deutschen ins Luschniki-Stadion kommen und mit ihrer . . .
In einem Wort aber lässt sich die Leistung der deutschen Mannschaft vielleicht gar nicht zusammenfassen. Sie hatte doch auf dem ungewohnten Kunstrasen in der ersten Halbzeit die Partie spielerisch dominiert, und das Tor zur WM hatte sie in der 35. Minute doch durch einen Treffer von Miroslav Klose nach feiner Kombinationsvorarbeit von Lukas Podolski und Mezut Özil aufgestoßen. Was folgte in der zweiten Hälfte, war das zu erwartende wütende Anrennen der Russen. Und dass dies nicht von Erfolg gekrönt war, lag an mangelnder Präzision beim Abschlussversuch, an der Abwesenheit von Glück, an der Anwesenheit von Schiedsrichter Massimo Bussaca, der zumindest einen Elfmeter verweigerte (nach Arne Friedrichs Foul in der 88. Minute an Wladimir Bystrow) – und an seriöser deutscher Verteidigungsbereitschaft und Torhüter Rene Adler.
Weil in Heldenspielen traditionell ein Held geboren werden muss, wurde Adler nach dem Abpfiff mit lautem Hurra gefeiert. Kapitän Michael Ballack allerdings erlaubte sich schon in den Katakomben, darauf hinzuweisen, dass Para-den der erleseneren Sorte zum Tagesgeschäft gehören: „Musst du als Torhüter mal machen.” Und Bundestrainer Joachim Löw erklärte lediglich bedächtig, dass der Leverkusener „in zwei, drei Situationen sehr gut reagiert” habe. Euphorie war also nicht zu besichtigen, nur Zufriedenheit und Erleichterung nach dem letztlich souveränen Erreichen des Etappenzieles.
Der ungestüme Boateng
Für den Bundestrainer wird es nun leichter werden, Anerkennung dafür zu finden, dass „wir schon eine Philosophie haben”. Im näheren Umfeld werden Pläne in die Schublade verfrachtet werden müssen, die für den Eventualfall des Misslingens der WM-Qualifikation ganz sicher ausgetüftelt wurden. Bei den deutschen Medien und in der deutschen Öffentlichkeit wird er auf mehr Respekt stoßen dafür, dass er „als Trainer auch Entscheidungen trifft, die nicht allen gefallen”. Der Scheinwerfer des finalen Sieges auf dem Weg nach Südafrika leuchtet die ganze Strecke, die bewältigt wurde, noch einmal aus. Alles war gut. Selbst dass Jerome Boateng, dem Löw so überraschend das Vertrauen schenkte in dieser großen Begegnung, in der 69. Minute nach einer ungestümen Attacke gegen Bystrow die Gelb-Rote Karte sah: Es ist nur noch eine Randnotiz.
So ein Triumph in Russland kracht eben wie ein Gewitter. Er hat Durchschlagskraft. Der Bundestrainer aber will mit den Boatengs, den Özils, den immer noch in der Mitte ihrer Karriere stehenden und dennoch bereits erfahrenen Lahms, Mertesackers, Schweinsteigers und mit den Kloses und Ballacks, den Senioren auf der Führungsebene, sein Projekt verwirklichen. Er will eine Mannschaft moderner Prägung schaffen, die über mehr Möglichkeiten verfügt als den festen Willen dazu, die Kampfhandlungen erst unter der Dusche einzustellen.
Hiddink, der so oft erleben musste, wie das schöne Spiel einer holländischen Elftal an genau diesem Willen zur Zerstörung zerbrach, muss die Historie im Auge gehabt haben, als er die Durchschlagskraft in die russische Sprache einführte. Besser gefallen haben wird Löw, dass der Kollege Nationaltrainer für die anstehenden Relegationsbegegnungen seiner Mannschaft verkündete: „Wenn wir so stark spielen wie heute, werden wir Favorit gegen jeden Gegner sein.”