Essen. Die jüngste Entwicklung im deutschen Fußball bereitet der Polizei, dem DFB und auch dem Fanforscher Gunter A. Pilz aus Hannover große Sorgen. Ím Interview erklärt Pilz, warum Stadionverbote keine Probleme lösen und welche Lehren die Polizei aus den Krawallen ziehen sollte.

Was kann passieren, wenn der Hamburger SV bei Mainz 05 antritt? Es kann zu gewalttätigen Ausschreitungen kommen – und zwar in Bielefeld. Auf der Fahrt zum Spiel in Mainz musste die Polizei eingreifen und Randalierer aus dem Zug holen. Dahinter steckt eine Entwicklung, die dem Deutschen Fußball-Bund, den Vereinen und der Polizei Sorgen bereitet und die kaum jemand so genau verfolgt wie Gunter A. Pilz. Der Hannoveraner, der als Deutschlands Fan-Forscher Nummer eins gilt und an der Universität Hannover das Institut für Sportwissenschaft leitet, beklagt einen regelrechten „Gewalt- und Event-Tourismus” zu Auswärtsspielen.

Herr Pilz, es hat am Wochenende gewalttätige Auseinandersetzungen in Berlin, Bochum, Bielefeld und Gelsenkirchen gegeben. Zufall oder mehr?

Gunter A. Pilz: Es gibt immer wieder Wochenenden, an denen etwas zusammen kommt, das hängt von Paarungen und Spielorten ab. Aber ich beobachte seit einiger Zeit auch einen Trend, der niemandem gefallen kann. In der Ultra-Szene gibt es eine Abspaltung von gewaltbereiten und immer jüngeren Fans. Da geht es schon bei 14-Jährigen um ein Wochenend-Event, in dem Gewalt ein zentraler Inhalt ist.

Nun wird die Fan-Szene bundesweit von der Polizei durchleuchtet. Die modernen Stadien gelten als sicher. Wer kann denn in der eigenen Arena noch ungestraft randalieren?

Pilz: Das Problem liegt nicht so oft an den Heim-Fans. Spitzenvereine werden zu ihren Auswärtsspielen von 4000 und mehr Anhängern begleitet. Darunter findet sich ein kleiner gewalttätiger Kern von vielleicht 150 Leuten, die nur noch zu Auswärtsspielen gehen, um dort loszuschlagen. Die kommen oft gar nicht aus dem Fußball. Das ist leider ein regelrechter Gewalt-Tourismus.

Es gibt bundesweit über 3000 Stadion-Verbote. Sind die Rädelsführer nicht aus dem Verkehr gezogen?

Pilz: Nein, auch Jugendliche mit Stadionverboten beteiligen sich an Auswärtstouren. Die Hin- und die Rückfahrt ist das Event, die 90 Minuten Fußball sind die Pause. Das alles macht uns Sorgen, man muss diese Entwicklung genau beobachten, das kann sehr leicht eine neue Dimension bekommen, zumal es sich nicht, wie so oft behauptet wird, auf die neuen Länder beschränkt.

"Ultras sind zu 90 Prozent friedlich"

Die Hooligans der 80er Jahre, die sich zu Prügeleien untereinander verabredet haben, sind Geschichte. Mit wem haben es Vereine und Polizei jetzt zu tun?

Pilz: Man spricht immer von den Ultras, aber bisher sind 90 Prozent der Ultras friedlich. Die Ultra-Bewegung hat angefangen mit einfallsreichen Choreographien in den Stadien, dann kamen Rauchbomben und Pyrotechnik dazu, die längst verboten sind. Natürlich passiert immer wieder etwas, gerade in den Blöcken der Gästefans. Das wirkt wie ein doppelter Triumph; man hat verbotene Knallkörper durch die Kontrollen geschmuggelt und das gegnerische Stadion damit symbolisch erobert. Jetzt kommt eine neue Qualität dazu: das Platzstürmen, oder, wo das nicht geht, das Blockstürmen. Die Ausschreitungen am Freitag beim Spiel Bochum gegen Köln, als 600 Kölner randalierten, waren ein Paradebeispiel dafür.

Das gilt offenbar auch für den Raum rund um die Stadien, für Busse und Bahnen...

Pilz: Ja, denn in den Stadien ist es dank der Video-Überwachung ja schwieriger geworden, sich auszutoben. Ich will ein typisches Beispiel geben: Wenn die Reserve von Hannover 96 zuhause spielt, kommen 150 Zuschauer, alles bleibt ruhig. Kürzlich sind aber 70 oder 80 gewaltbereite Jugendliche zum Auswärtsspiel der Reserve nach Babelsberg mitgefahren. Solche Aktionen sprechen sich im Internet schnell herum, und andere Fangruppen reagieren darauf. Auf der Rückfahrt ist die Regionalbahn mit den Hannoveranern kurz vor Braunschweig von 100 Vermummten aus der Eintracht-Szene überfallen worden.

"Polizei in vielen Kurven Feindbild Nummer eins"

Sind diese Entwicklungen durch die Polzei alleine noch zu stoppen?

Pilz: Die Polizei hat viel zu lange undifferenziert auf die Ultra-Szene reagiert und sie in einen Topf mit Hooligans geworfen. Deshalb dient die Polizei in vielen Kurven als Feindbild Nummer eins. Wenn sie dann gegen Gewaltttäter vorgeht, solidarisieren sich auch an sich friedliche Fans mit den Chaoten, die uns weggekippt sind. Um dieses Muster aufzubrechen, muss die Polizei auch den Dialog mit den Ultras suchen.

Die Realität ist allerdings, dass der Dialog stockt. An Fan-Projekten zum Beispiel wird gespart.

Pilz: Ja, leider. Im Fußball spiegeln sich unsere gesellschaftliche Probleme. Es gibt unter Jugendlichen eine Gewalt- und eine Eventkultur, das mischt sich. Gewalt hat da eine Chance, wo Jugendliche keine Zukunftsperspektiven sehen.