Essen. In der Corona-Krise melden sich nachdenkliche Stimmen zu Reformideen im Fußball. Ob die Diskussion anhält, wenn die Normalität zurückkehrt?
„Vielleicht können wir den Fußball reformieren, indem wir einen Schritt zurückmachen.“ Das sagt Gianni Infantino. Ausgerechnet. Der oberste Boss des Weltfußballs deutet auch an, was er meint: „Weniger Turniere, dafür interessantere, vielleicht weniger Teams, dafür mehr Ausgeglichenheit.“
Uli Hoeneß, Ex-Präsident des Rekordmeisters FC Bayern, sagt: „Die jetzige Situation ist eine Gefahr, aber auch eine Chance, dass die Koordinaten etwas verändert werden können.“ Was meint Hoeneß?
Kritik von Fußball-Funktionären am Ist-Zustand
Eine Antwort gibt St.-Pauli-Chef Oke Göttlich: „Wir müssen das bisherige System im Fußball hinterfragen, weil es einem neuen System des solidarischen Miteinanders wird weichen müssen.“ Ilja Kaenzig, sein Kollege vom Revierklub VfL Bochum, sekundiert: „Wir waren wie Junkies. Abhängig von der Droge Fernsehgeld. Und dieses floss direkt in die Spielerlöhne, so hat sich alles hochgeschaukelt.“
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Wird jetzt also alles anders beim Fußball? Wenn man den Machern und ihren Gedanken, die sie äußern, folgt, scheint das möglich. Bescheidenheit, Gerechtigkeit, Solidarität sind die Worte der Stunde.
Aber werden diese Bestand haben, wenn die Corona-Krise überwunden ist? Niemand wird den Protagonisten so viel Zynismus unterstellen wollen, dass sie nicht meinen, was sie sagen, auch wenn es schwerfällt, ausgerechnet Infantino und Hoeneß als Wegbereiter eines Zeitalters der Mäßigung zu sehen. Man darf dennoch davon ausgehen, dass die Funktionäre glauben, was sie sagen. Zumindest gerade jetzt. Wie alle anderen Menschen auch, werden sie von Eindrücken aus dem öffentlichen Leben und den Auswirkungen auf ihren ganz persönlichen Alltag beeinflusst. Auch bei ihnen bestimmt das Sein also das Bewusstsein. Die Frage ist nur: wie lange?
Das Innehalten währt nicht lang
Der Fußball hat manche Krise durchlaufen, wichtige Momente des Innehaltens erlebt. Nach dem Selbstmord von Robert Enke 2009 mahnten viele zu einem veränderten Umgang im Leistungssport. Man müsse Druck und Probleme besser erkennen, forderten damals viele. Davon ist heute kaum noch etwas wahrzunehmen.
Gerade erst – mit dem Beginn der Rückrunde und scheinbar doch eine ganze Ewigkeit her – hatte der DFB wegen des rauer werdenden Umgangstons die Regeln auf dem Platz verschärft. Schiedsrichter wurden angewiesen, Respektlosigkeiten schärfer zu ahnden.
Gerade erst – und auch schon wieder eine gefühlte Ewigkeit her – gab es eine breite Debatte über den Umgang mit Dietmar Hopp. Darüber, ob es in Ordnung ist, den Mäzen der TSG Hoffenheim in ein Fadenkreuz zu stellen. Zu Spielabbrüchen wegen des unbeirrbaren Verhaltens einiger Fans kam es vermutlich nur deshalb nicht, weil das Virus gleich den gesamten Spielbetrieb vorzeitig unterbrochen hat.
Mahnende Beispiele
Sind die Hooligans seit dem schrecklichen Angriff auf den französischen Polizisten Daniel Nivel bei der Fußball-WM 1998 in Frankreich weniger gewaltbereit, Fans seit dem tragischen Unglück nach einer Massenpanik im Brüsseler Heyselstadion 1985 vernünftiger geworden? Wie sieht das mit der steil aufwärtsführenden Spirale der Ablösesummen oder immer neuen Wettbewerben aus? Klar. Es hat sich oft was getan, es wurden Bauvorschriften, Regeln und Gesetze geändert, Initiativen gegründet, es gibt Diskussionen. Die Antworten könnten dennoch deprimieren.
Die Zeit scheint in einer Situation, die weit über den Fußball hinaus von vielen bereits als größte Krise seit dem 2. Weltkrieg bezeichnet wird, reif für Veränderungen.
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Noch stecken allerdings alle mittendrin in der Krise. Über den Tellerrand hinausschauend fällt der Blick auf China, wo sich die Lage zu normalisieren scheint. Der Blick ruht aber auch auf den USA, wo sich das Virus erst so richtig verbreitet. Das hat nichts mit Fußball zu tun? Wenn die Weltwirtschaft in eine Rezession rutscht, fällt der Fußball mit. Öffentlich werden Begriffe wie Kurzarbeit und KfW-Kredite sonst nicht in den Mund genommen. Wenn alles schief läuft, stürzt er tief. Dann würden sich die Prognosen der Fußballfunktionäre bestätigen, die glauben, dass sich Gehälter und Ablösesummen drastisch verringern werden.
Beachtliches Beharrungsvermögen
So sehr viele Menschen von theatralischen Schwalben, dämlichem Lamentieren mit dem Schiedsrichter, lustlosem Ballgeschiebe, aber auch von der Überfrachtung des Spielplans oder Goldsteak-verzehrender Oberflächlichkeit genervt sind, so beachtlich ist aber auch das Beharrungsvermögens des Sports gegen Veränderungen.
Sport ist ein Wettkampf. Und der will einen Gewinner sehen. Verlierer finden auch in den Annalen des Fußballs kaum einen Raum. Ein Vizemeister der Herzen, das wird beim FC Schalke 04 kaum jemanden besänftigen, ist eine der sehr selten erinnerten Ausnahmen, dessen außerordentliche Umstände diese Regel eher bestätigt.
Damit keine Missverständnisse entstehen: Nur weil Gewinnen im Kern des Sports alles ist, heißt das nicht, dass auch alles erlaubt sein sollte. Dass ein sorgfältig gewebtes Geflecht aus Regeln, Ordnungen und Vorschriften den Sport in geordneten Bahnen hält, ist ebenso richtig wie wichtig. Menschliche Größe hat es im Ringen um Titel und Meisterschaften häufig schwer.
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Fußball ist zudem, nur ausgesprochene Romantiker bedauern das noch gelegentlich, ein Hochglanzprodukt, das verkauft werden muss und daher den Gesetzen des Marktes unterworfen ist – und die verlangen von den miteinander konkurrierenden Klubs Wachstum. Dauerhaft. Wer ausschert hat verloren, übrigens auch bei Fans, die häufig klagen, dass ihr Sport seine Seele verkauft und gleichzeitig immer neue, immer bessere Stars fordern. Fans, die zudem schnell ganz buchstäblich an den Stadionzäunen auf die Barrikaden gehen, wenn der Erfolg ausbleibt.
Das Fußball-Paradox
Wenn sich das Virus verzogen hat, werden Funktionäre, Klubs und Sportler so weiter machen wie bisher, wieder an den Regeln rütteln, versuchen, sie zu dehnen, wo es geht. Und das ist – so paradox das klingt – bei allem Sehnen nach Reformen genauso richtig, wie in Zeiten der Krise die Solidarität wichtig scheint, damit sich die Fußballlandschaft nicht zu sehr verändert.
Die Gefahr, dass gerade die kleinen Vereine, die unzähligen einstmals bedeutenden Traditionsklubs in der aktuellen Lage unter die Räder kommen, ist sehr real. Damit würde aber nicht nur Vereinen, sondern den Menschen ein Stück Heimat, ein emotionaler Fixpunkt wegbrechen. Ohne Solidarität überlebt der Fußball vielleicht, die Tradition aber stirbt.
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Auch deshalb fordert Andreas Rettig, einst DFL-Geschäftsführer, wider alle Vernunft ein Sonderrecht für den Fußball. Eines, das den Klubs erlaubt, bald wieder spielen zu dürfen. Weil sie, so Rettig, einen „Beitrag zur Zerstreuung und damit für das Wohlbefinden der Menschen leisten“.
Richtungsweisend im Stillstand
In Nordrhein-Westfalen haben die Behörden immerhin dem Drängen nach Training bereits nachgegeben. Fußballprofis und andere Leistungssportler dürfen wieder auf ihre Trainingsgelände. Zu zweit und unter Auflagen, aber immerhin.
Große Hoffnung, dass der Fußball umdenkt, darf man sich also nicht machen: Während alles still steht, geben die ersten schon wieder die Richtung für die Zeit danach vor. Karl-Heinz Rummenigge, noch so eine Graue Eminenz des Fußballs, weiß zwar vermutlich auch nicht, wie es weiter geht, erwartet ebenfalls sinkende Transfersummen im Sommer, kündigte aber bereits an, dass den Spielern des FC Bayern, die vor der Vertragsverlängerung stehen, keine „kleineren Verträge“ angeboten werden sollen.
Die Zeichen deuten also trotz aller Nachdenklichkeit in der Krise auf ein unbeschwertes „weiter so“.
Das klingt ermutigend, aber auch nach einer ausgelassenen Chance.