Wattenscheid. . Der Wattenscheider Julian Reus ist der schnellste Deutsche. Vor der Leichtathletik-Europameisterschaft, die in der kommenden Woche in Zürich beginnt, spricht der 29-Jährige im Interview über gedopte Konkurrenten, seine Ziele in Zürich und einen 9,99-Sekunden-Lau.

Julian Reus (26) vom TV Wattenscheid hat vor zwei Wochen den 29 Jahre alten 100-Meter-Rekord von Frank Emmelmann auf 10,05 Sekunden verbessert. Vor 54 Jahren lief Armin Hary handgestoppte 10,0 Sekunden (elektronisch wird seine Zeit wegen der Reaktionsverzögerung mit 10,25 Sekunden gewertet). Im Züricher Letzigrund. In diesem Stadion will auch Julian Reus in der kommenden Woche bei den Leichtathletik-Europameisterschaften auftrumpfen. Vor seiner Abreise sprach er über seine EM-Ziele, über die Faszination des Sprints und sein Unverständnis über die frühe Rückkehr gedopter Konkurrenten.

Herr Reus, nach Ihrem Rekordlauf in Ulm haben Sie Armin Hary getroffen. Was hat er Ihnen mit auf den Weg nach Zürich gegeben?

Julian Reus: Armin Hary hat mir viel Erfolg gewünscht und mich dafür sensibilisiert, dass die Situation bei der Europameisterschaft eine ganz andere sein wird und ich mich darauf einstellen muss.

Haben Sie schon mal seinen 10,0-Rekordlauf aus Zürich gesehen?

Reus: Ehrlich gesagt, nein. Das, was er geschafft hat, ist einmalig. Seine Zeit mit meiner quer zu vergleichen, bringt nichts. Es war eine handgestoppte Zeit, die Bahn war anders, die Schuhe. Ich bin auch niemand, der sich viel von anderen abschaut. Ich will niemanden kopieren, ich habe meinen eigenen Stil.

Mit 10,05 Sekunden stehen Sie über 100 Meter hinter dem Franzosen Jimmy Vicaut und drei Briten auf Platz fünf der europäischen Jahresbestenliste. Ist eine Medaille drin?

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Reus: Das Schlimmste wäre nach dem Lauf in Ulm, wenn ich jetzt zufrieden wäre. Erst einmal muss ich aber ins Finale laufen. Im Sprint wird der kleinste Fehler brutal bestraft. Wenn ich meine Leistung so auf den Punkt abrufe wie in Ulm, dann kann ich ein Wort mitreden.

Vor einem Jahr sind Sie vor der WM 10,07 Sekunden gelaufen und dann in Moskau mit 10,27 Sekunden sofort im Vorlauf ausgeschieden. Was muss diesmal besser laufen?

Reus: Die Ausgangslage ist anders. 2013 musste ich der schwierigen WM-Norm von 10,15 Sekunden lange hinterher laufen. Eine Woche vor der WM bin ich dann 10,07 Sekunden gesprintet. Ich habe es nicht geschafft, mich von diesem emotionalen Hoch schnell genug zu erholen. Diesmal habe ich mehr Zeit. Ich bin ein Sportler, der sehr von den Emotionen lebt.

Wie wichtig ist der Kopf im Sprint?

Reus: Genauso wichtig wie die Beine. Wenn du im Kopf nicht frisch bist, dann läufst du 10,25 statt 10,10 Sekunden.

Welche Faszination übt der Sprint auf Sie aus?

Reus: Wenn alles perfekt ist, dann sind das zehn Sekunden völlige Gedankenlosigkeit. Ich liebe diesen totalen Gegensatz zwischen Nervenkitzel vor dem Rennen, der Gedankenlosigkeit im Lauf und der totalen Entspannung im Ziel. Es reizt mich, in dieser schwierigen Disziplin, in der es auf feinste Nuancen ankommt, die eine oder andere Hundertstelsekunde herauszukitzeln.

Sind Sie dabei nie in Versuchung gekommen, mit Doping nachzuhelfen?

Reus: Nein. Überhaupt nicht. Die Einstellung, nur mit sauberen Mitteln zu laufen, ist schon anerzogen. Ich habe mich doch nicht erst mit 25 Jahren entschieden, ob ich den sauberen Weg gehe oder nicht. Es ist nie in meinen Gedankengut gewesen, etwas Unerlaubtes auszuprobieren.

Reus: "Da stelle ich mir schon die Frage, wo die moralische Strafe bleibt." 

Bei vielen Sprintern ist das anders. Viele sind erwischt worden. Sie haben kritisiert, dass die Sperren von Tyson Gay und Asafa Powell verkürzt worden sind und sie jetzt wieder in den großen Meetings mitrennen. Wie sehr beschäftigt Sie das?

Reus: Ich mache mir deswegen keine schlaflosen Nächte, und es ist nicht meine Aufgabe, die Länge der Sperren festzulegen. Aber ich verstehe die Welt nicht mehr, wenn die früher zurückkommen und ein Asafa Powell in Jamaika gleich wieder wie ein Volksheld gefeiert wird. Tyson Gay hat durch seine verkürzte Sperre vielleicht drei Wettkämpfe verpasst. Da frage ich mich schon, warum es überhaupt Doping-Bekämpfung gibt.

Müssen die Sperren länger sein?

Reus: Auch das müssen Experten entscheiden, die die Art und Weise der Dopingmittel genau kennen. Die Gesellschaft sollte sensibilisiert an diese Sache herangehen. In Deutschland geht das. Wir sind moralisch anders gepolt. Es geht nicht darum, dass die Dopingsünder keine zweite Chance erhalten. Doch nach der Rückkehr sofort wieder ein Volksheld zu sein, das ist schon krass. Da stelle ich mir schon die Frage, wo die moralische Strafe bleibt.

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Was denken Sie, wenn Sie hören, dass die schnellen Jamaikaner inklusive Usain Bolt ihre Schnelligkeit auf den Verzehr von Süßkartoffeln zurückführen?

Reus: Vielleicht ist es clever, vielleicht machen sie sich auch über uns lustig. Ich weiß es nicht. Es ist aber Quatsch, dass man von Süßkartoffeln oder, sagen wir, dicken Bananen schneller wird.

Sind für Sie auch ohne die Kraft der Süßkartoffel die 9,99 Sekunden drin? Wie sehr reizt es Sie, eine Neun vor dem Komma stehen zu haben?

Reus: Ich habe gelernt, dass man sich keine Grenzen setzen darf. Ich habe diese Zeit nicht ständig im Hinterkopf. Es wäre natürlich schön, und ich denke, es ist auch machbar. So etwas kann man jedoch nicht planen. Alles muss am Tag X stimmen: Die Form, die Temperatur, der Wind, die Konkurrenz, die Laufbahn, und, und, und.