Lyon. . Die 100. Frankreich-Rundfahrt ist ein gigantisches Ereignis, eine Mischung aus Kirmes und Kommerz. Die deutschen Radprofis sind so erfolgreich wie selten – doch hierzulande ist die Liebe erkaltet. Zu tief sitzt die Enttäuschung nach den Dopingskandalen der vergangenen Jahre.

Morgens um sieben ist die Welt für Jean-Christoph Mevel noch in Ordnung. Er ist 67 Jahre alt, hat 46 Jahre als Konditor gearbeitet und hat seinen Campingstuhl nun direkt hinter der Werbebande am Ziel aufgebaut. Der beste Platz des Tages gehört damit ihm. Um neun Uhr drängen sich die Menschen bereits in drei weiteren Reihen hinter dem Franzosen aus Lille. Die Radprofis der Tour de France rauschen allerdings erst in acht Stunden durchs Ziel. Die Brise trägt den Salzgeruch des Atlantiks in die Straßen des Etappenortes Saint Malo. Die Sonne brennt bereits am Vormittag, es werden harte Stunden. Aber bevor die Begeisterung für die Tour in Frankreich abebbt, wird das Baguette viereckig.

3403,3 Kilometer in drei Wochen quer durch das Land, 4500 Personen im Tour-Tross, 14 000 Gendarmen im Einsatz, 130 Millionen Euro Umsatz, ein Preisgeld von rund zwei Millionen Euro, und das französische Fernsehen überträgt täglich ab mittags live. Wenn die Fahrer noch nicht zu sehen sind, flimmert das Rahmenprogramm aus den Etappen-Städtchen über den Bildschirm. Zum Beispiel: Wie viele Austern kann ein Mensch in einer Minute öffnen? Louis, der Austern-König der Bretagne, schafft 38 Stück.

Doping spielt vor Ort keine Rolle

Die Tour ist ein bunter Zirkus, im Fernsehen und auf der Straße. Zwei Stunden vor den Profis zieht die Karawane über die Strecke. Werbeautos der Sponsoren, umgebaut wie Karnevalswagen zu Rosenmontag. Festina ist wieder mit dabei – der Uhrenhersteller, der 1998 eine Tour-Mannschaft unterhielt und mit einer rollenden Mannschaftsapotheke einen der größten Doping-Skandale der Sportgeschichte auslöste. Bei den Zuschauern am Straßenrand offensichtlich vergeben und vergessen. Vom Festina-Wagen fliegen Geschenke wie Kamelle. Der Haribo-Wagen folgt, es hagelt Tütchen mit Gummibärchen. Macht nicht nur Kinder froh, auch Erwachsene rangeln um Gummibärchen.

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15 Millionen Menschen müssen über Stunden unterhalten werden. So viele Zuschauer erwarten die Organisatoren in diesem Jahr am Streckenrand. Das klingt gigantisch, doch die Zahl relativiert sich beim genauen Hinsehen. Auch in den 50er-Jahren säumten bereits 15 Millionen Menschen die Strecke. Nur: Damals hatte Frankreich rund 40 Millionen Einwohner, heute sind es 64 Millionen. Im Gegensatz zu damals, als es kaum Tour-Tourismus gab, reist zudem heute ein Fünftel aller Besucher aus dem Ausland an.

Erinnerungen an den Doping-Sünder Armstrong

Die meisten davon aus England. Der Brite Bradley Wiggins gewann im vergangenen Jahr die Tour, in diesem Jahr fährt sein Landsmann Christopher Froome als Favorit im Gelben Trikot des Führenden. Die Fans sagen über ihn: Brite mit Sahne. Die Skeptiker: Wie er auf der ersten Bergetappe zum Gebirgsort Ax-3-Domaines die Konkurrenz versenkt hat, erinnert an den aufgeflogenen Doping-Sünder Lance Armstrong. Armstrong hält mit 23:08 Minuten noch den Rekord für den 8,9 Kilometer langen Anstieg. Froome flog den Berg in 23:14 Minuten hinauf. Sport-Diagnostiker halten ohne leistungssteigernde Mittel nur eine Zeit von 24:15 Minuten für möglich.

Jeder sieht bei der Tour das, was er sehen will.

Die deutschen Fan-Massen aus der Zeit des gefallenen Radsport-Helden Jan Ullrich sucht man vergeblich. „Ihr Deutschen seid so kritische Typen“, sagt Jean-Christophe Mevel in seinem Campingstuhl am Ziel. Er spricht gut Deutsch, er hat ein paar Jahre in Saarbrücken gewohnt. Dabei haben die Deutschen ausgerechnet in diesem Jahr genau das, was die Franzosen nicht haben: Etappensieger!

Fünf deutsche Etappensiege

Es ist nicht die Tour die France, sondern die Tour de Franz. Fünf Etappensiege haben Tony Martin, Andre Greipel und Marcel Kittel (3) bislang geholt. Woher kommt dieser Erfolg?

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Alle drei Profis stammen aus der ostdeutschen Sportförder-Schule. Peter Sager, der in Rostock auch Jan Ullrich entdeckte, brachte Greipel zum Radsport. Kittel und Martin wurden am Olympiastützpunkt Erfurt betreut. Greipel und Martin unternahmen zudem ihre ersten Profischritte im Nachwuchs beim damaligen Team Telekom. Die Doping-Geschichte der Ullrich-Mannschaft ist hinreichend erzählt, der Olympiastützpunkt Erfurt rutschte zuletzt mit der Blutbestrahlungsaffäre in die Schlagzeilen. Keine einfache Vergangenheit.

Doch: Die neuen deutschen Radprofis sprechen sich bei jeder Gelegenheit vehement gegen Doping aus und fordern eine schärfere Antidoping-Gesetzgebung.

Brutale Routenführung

Deutschland reagiert dennoch kühl, zu tief sitzt die Enttäuschung um Ullrich. Zumal die Tour in ihrer 100. Auflage die Anstrengungen weiter erhöht. Natürlich, ein bisschen Pass muss sein, und die Berge sind die Königsdisziplin für Radprofis. Aber in diesem Jahr hat Tour-Sportdirektor Jean-Francais Pescheux das Überding in den Streckenplan eingebaut: Am kommenden Donnerstag jagt er die Fahrer auf der 18. Etappe erstmals in der Tourgeschichte zweimal hintereinander den mörderischen Anstieg über die 21 Kehren nach Alpe d’Huez hoch. „Der Schauer der Erregung im Publikum zeigt, dass wir mit unserer Erwartung goldrichtig liegen“, begründet Pescheux die brutale Routenführung.

Gegen 18 Uhr werden die Fahrer im Ziel auf dem Gipfel erwartet. Fraglich, ob ihre Welt dann noch in Ordnung ist.