Silverstone. Nach dem Chaos-Rennen in Silverstone steckt die Formel 1 in einer tiefen Reifenkrise. Die Fahrer sorgen sich um ihre Sicherheit und erwägen sogar einen Boykott des Nürburgring-Gastspiels. Von Hersteller Pirelli wird eine schnelle Problemlösung verlangt. Die Krise ist wie so oft hausgemacht.
Die Formel-1-Stars hat vor dem Deutschland-Rennen die nackte Angst um Leib und Leben gepackt. Die Reifen-Explosionen von Silverstone verunsichern Fahrer und Teams zutiefst und haben sogar eine Debatte um einen Boykott des Gastspiels auf dem Nürburgring am Sonntag entfacht. "Das ist einfach nicht akzeptabel. Sie machen erst etwas, wenn jemand verletzt wird", schimpfte Mercedes-Pilot Lewis Hamilton.
Der Weltverband FIA berief eine Krisensitzung für Mittwoch ein, Präsident Jean Todt drängte Reifenhersteller Pirelli zu schnellen Lösungen. Ändert sich bis zum Wochenende nichts, könnten die Fahrer streiken. "Darüber werden wir ganz sicher diskutieren. Für unsere Sicherheit könnten wir das tun", sagte Ferrari-Pilot Felipe Massa.
"Formel Risiko"
Sebastian Vettels Red-Bull-Teamkollege Mark Webber beschrieb das beängstigende Geschehen beim britischen Grand Prix als "Russisches Roulette". Die spektulären Reifenplatzer und die Ratlosigkeit über die Ursachen hätten fast zum Rennabbruch geführt. "Ziemlich dicht davor" sei er gewesen, verriet FIA-Renndirektor Charlie Whiting. "Formel Risiko", urteilte die italienische Zeitung "La Repubblica". "Formel 1 in Fetzen", schrieb "Le Figaro".
Die eskalierte Lage erinnert fatal an den Indianapolis-Skandal von 2005, als die Michelin-Reifen den Belastungen auf der US-Strecke nicht standhielten und fast alle Teams ihre Autos nicht starten ließen. Nur die drei von Bridgestone ausgerüsteten Rennställe fuhren unter wütenden Beschimpfungen der Fans den Grand Prix. "Wir wollen kein neues Indianapolis", sagte McLaren-Teamchef Martin Whitmarsh.
Lange war die Debatte um die empfindlichen Pirelli-Pneus in dieser Saison ein Machtspielchen zwischen den Teams, die besser oder schlechter mit den Gummimischungen zurechtkommen. Jetzt aber geht es um die Gesundheit und das Leben der Fahrer. "Natürlich war das riskant", sagte Silberpfeil-Pilot Nico Rosberg. Sein zweiter Saisonsieg vor Webber und Ferrari-Star Fernando Alonso geriet fast zum Randaspekt inmitten des hochbrisanten Reifenstreits. "Die müssen das analysieren, denn so etwas ist nicht gut für die Formel 1", fügte Rosberg hinzu.
"Wir haben etwas gesehen, dass wir nicht verstehen"
Doch was kann Pirelli bis zum Freitagstraining in der Eifel wirklich verändern? "Wir haben etwas gesehen, dass wir nicht verstehen", bekannte Pirelli-Motorsportdirektor Paul Hembery und beteuerte: "Wir nehmen das Thema sehr ernst." Das italienische Unternehmen aber ist keineswegs der Alleinschuldige an dem Desaster. Der neue Reifen mit höherem Verschleiß wurde ausdrücklich auf Wunsch der Formel 1 zur Verbesserung der Show eingeführt. Als sich zu Saisonbeginn die Pannen und Klagen häuften, bot Pirelli Änderungen an. Doch Lotus, Ferrari und Force India, deren Autos gut mit den Reifen zurechtkommen, blockierten eine Reform.
Als Pirelli einen Privattest mit Mercedes fuhr, um Lehren aus den Problemen mit den Gummiwalzen zu ziehen, reagierten Red Bull und Ferrari mit einer Anzeige bei der FIA. Der Verband sprach Verwarnungen wegen des Verstoßes gegen das Testverbot aus und schloss Mercedes vom Nachwuchsfahrertest Mitte Juli aus. "Wir müssten uns alle fremdschämen. Das hat der gesamten Formel 1 geschadet", befand Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff nun zum Zoff der vergangenen Wochen.
Alonso: "Ich hatte richtig Angst"
Die Krise ist also wieder mal hausgemacht - und jetzt ist es bitterernst. "Ich hatte richtig Angst", gestand sogar der eher hartgesottene Spanier Alonso. Via Twitter veröffentlichte der WM-Zweite eine TV-Aufnahme von einem fliegenden Reifenteil, das sich bei 288 Stundenkilometern direkt vor ihm vom McLaren des Mexikaners Sergio Perez löste. "Ich hatte Glück, es hat mich um einen Zentimeter verpasst", sagte Alonso. "Wenn Dir das ins Gesicht oder auf den Sturzhelm fällt, reißt es dir das Genick ab", warnte RTL-Experte Niki Lauda. "Wir riskieren unser Leben und wenn das wieder passiert, wollen wir nicht, dass jemand stirbt", sagte Perez.
Unter enormem Druck trifft sich nun die Sport-Arbeitsgruppe der Formel 1 am Mittwoch auf der Suche nach einem Ausweg. "Ich würde vorschlagen, wir kehren zu den alten Reifen zurück, die diese Schäden nicht hatten. Das Problem ist, dass bestimmten Teams dann vorgeworfen wird, sie wären auf einen Vorteil aus", sagte Red-Bull-Teamchef Christian Horner. "Wir müssen alle zusammenhalten. Jetzt geht es nicht mehr um irgendeinen Vorteil, sondern nur noch um die Sicherheit", betonte Mercedes-Manager Wolff und meinte: "Pirelli hat Lösungen in der Schublade." Und nur das dürfte den nächsten Eklat auf dem Nürburgring verhindern. (dpa)