Silverstone.
. Dramatisch. Chaotisch. Glücklich. Nico Rosberg feierte seinen zweiten Saisonsieg innerhalb von drei Formel-1-Rennen. Überschattet wurde der Silberpfeil-Triumph vor Mark Webber im Red Bull und Fernando Alonso im Ferrari aber durch den Ausfall von Titelverteidiger Sebastian Vettel gut zehn Runden vor Schluss des Großen Preises von Großbritannien – vor allem aber durch die hochriskanten Reifenexplosionen während der 95 Rennminuten.
Eine Woche vor dem Großen Preis von Deutschland auf dem Nürburgring ist die scheinbar gelaufene WM plötzlich wieder hochspannend: Vettel führt mit 132 Punkten vor seinem Widersacher Fernando Alonso (111) und dem Tages-Fünften Kimi Räikkönen (98).
„Das war verrückt“, stammelte Sieger Rosberg beim Gang aufs Podium, „ein unglaubliches Rennen. Ich hab’ immer Vollgas gegeben. Als Sebastian raus war, ging es nur noch ums Reifenschonen. Das Problem muss jetzt dringend gelöst werden. Ich hatte Glück, dass ich durch die Safety-Car-Phase nochmal wechseln konnte.“
Die Hoffnungen der Briten auf einen Triumph des aus der Pole-Position gestarteten Lewis Hamilton zerplatzen mit einem spektakulären Knall. Bittere Ironie des Schicksals: Wie sehr war Mercedes für den Privattest mit Pirelli angefeindet worden, und dann ist es ausgerechnet ein Reifenschaden in der 8. Runde, der den führenden Silberpfeil von Lewis Hamilton ans Ende wirft. Bei Tempo 300 auf der Geraden platzt der linke Hinterreifen, der Brite kann seinen Rennwagen bravourös auf der Piste halten, aber die Siegeshoffnungen sind natürlich dahin.
Das ist erst der Auftakt für einen dramatischen Renn-Nachmittag. Einen ähnlichen Schock erleidet Ferrari zwei Umläufe später, als Felipe Massa der gleiche Schaden ereilt. Erst dann kommt über Boxenfunk die Warnung, dass offenbar die Randsteine in den Kurven („Kerbs“) die Pneus aufschlitzen. Vorübergehend führt das zu einem schwarz-rot-goldenen Führungstrio: Vettel vor Rosberg und Adrian Sutil.
In Runde 15 kommt der nächste Schock für Pirelli – auch bei Jean-Eric Vergne fliegen die Fetzen. Er rettet sich in die Box, nur durch ein Wunder kracht das schlingernde Auto nicht in den laufenden Verkehr. Die Teams sind hilflos, aber das Risiko wird Renndirektor Charlie Whiting jetzt doch zu groß, er schickt das Safety-Car raus: Neutralisierung. Die einzig richtige Entscheidung.
Whiting nimmt die Bürde auf sich
Erste Mutmaßungen über die sich häufenden Schäden beziehen sich darauf, dass bei steigenden Temperaturen die Randsteine in den Hochgeschwindigkeitskurven die Reifenschultern aufschlitzen. Die Streckenposten klauben Hunderte von Gummiteilchen der explodierten Reifen vom Asphalt, eine Kehrmaschine kommt zum Einsatz.
Aber was kann man tun auf die Schnelle, das wirklich so sicher ist, um die restlichen zwei Drittel des Rennens zu Ende zu fahren? Praktisch nichts. Whiting nimmt die Bürde auf sich: der achte WM-Lauf wird mit der 22. Runde wieder frei gegeben. Einige Teams, auch Red Bull, pumpen die Reifen stärker auf, das soll einen größeren Schutz bieten. The show must go on. Auch wenn die Ideallinie über die rot-weiß-roten Streckenbegrenzungen führt. „Wir waren alle nervös“, gestand Mark Webber später.
Vettels Getriebe streikt
Das Rennen geht munter weiter, am Ende der 41. Runde verliert Sebastian Vettel nicht nur seine drei Sekunden Vorsprung auf Rosberg, sondern auch das Getriebe im Red Bull. Statt des vierten Sieges in diesem Jahr erlebt er seinen ersten Ausfall in der Saison, bis dahin war er der einzige, der alle Runden der Saison gefahren war. Er hat die Augen geschlossen, als er sich aus dem Cockpit quält, seinen antriebslosen Rennwagen hat er an der Boxenmauer abgestellt. „Das kam sehr plötzlich, als ich in den sechsten Gang schalten wollte. Dann waren alle Gänge weg. Keine Ahnung, warum. Schade, wenn man so nah dran war.“ Am Kommandostand gibt es tröstende Umarmungen.
Auf den letzten sieben Runden geht es rund. Räikkönen und Sutil jagen Rosberg. Und wieder fliegen die Fetzen. Diesmal am McLaren von Perez. Alonso und Hamilton peitschen indes nach vorn. Der Spanier verbessert sich auf fünf, und Mark Webber schnappt sich in einem Wahnsinnsmanöver Räikkönen. Alonso ist Dritter, er fährt, als ob es um den Titel geht. Tut es ja auch, nach Vettels Ausscheiden. Was für ein Finale. Ein sehr glückliches. Vor allem.