Paris. Die 24-Jährige ist dabei, ihre Verwandlung zur Spitzenspielerin endgültig abzuschließen. Selbstvertrauen, Siegeswille und die günstige Auslosung machen sie zu einer Mitfavoritin beim wichtigsten Sandplatzturnier der Welt. Die Türen zu einem Coup stehen der Linkshänderin sperrangelweit offen.
Manchmal weiß Angelique Kerber noch gar nicht, wie gut sie ist. Nachdem sie in der dritten Runde der French Open nach 0:1-Satzrückstand den zweiten Durchgang gegen die Italienerin Flavia Pennetta gewonnen hatte, lehnten sich die deutschen Tennisfans bereits entspannt zurück. Immerhin hatte ihre größte Hoffnung in diesem Jahr noch kein Dreisatzspiel verloren - 13:0 lautete Kerbers beeindruckende Bilanz. „Das wusste ich gar nicht“, sagte die Weltranglistenzehnte später: „Im vergangenen Jahr habe ich bis August fast alle meine Dreisatzspiele verloren.“
Doch die zaghafte, zweifelnde und kaum austrainierte Nummer 107 der Welt aus dem Sommer 2011 hat mit der Angelique Kerber, die längst zu den Mitfavoritinnen im Stade Roland Garros gehört, nichts mehr zu tun. Wie selbstverständlich gewann die 24-Jährige den dritten Durchgang gegen die große Kämpferin Pennetta, baute ihre Erfolgsbilanz auf 14:0 aus und zog erneut in die zweite Woche eines Grand-Slam-Turniers ein. Dort trifft Kerber am Sonntag im Achtelfinale auf die ungesetzte Petra Martic.
Als siebte Deutsche in den Top Ten
Die Türen zu einem Coup beim wichtigsten Sandplatzturnier der Welt stehen der Linkshänderin sperrangelweit offen. Zum einen hat sich Kerber mit ihrem Siegeszug, der mit dem Halbfinale bei den US Open im vergangenen Spätsommer begann, selbst in Stellung gebracht. Als siebte Deutsche schaffte die Kielerin den Einzug in die Top Ten der Welt. Zum anderen scheint die Auslosung günstig wie nie: Die höher eingestuften Marion Bartoli (Frankreich/Nr. 8) und Agnieszka Radwanska (Polen/Nr. 3), die bis zum Halbfinale auf Kerber gewartet hätten, sind bereits ausgeschieden.
Einen Durchmarsch erwartet Kerber trotzdem nicht, besonders auf Sand kann jedes Spiel zu einer quälenden Geduldsprobe werden. Wenn sie dafür noch einen Beweis gebraucht hatte, dann war es das Spiel gegen Pennetta. Die Dämmerung war angebrochen, jede Minute zählte, und Kerber wollte schnell gewinnen. „Meine Taktik war, zu riskieren und schnell auf den Punkt zu gehen“, erklärte sie nach dem Match: „Aber ich war noch nicht richtig im Spiel und habe zu viele Fehler gemacht. Also habe ich meine Taktik umgestellt und versucht, mich reinzukämpfen. Sonst wäre das Spiel verloren gegangen.“
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Kerber erarbeitete sich Grundlagen im Winter
Kerber spielte „Punkt für Punkt“, rannte an der Grundlinie auf und ab. Die Grundlagen dafür hatte sie sich im Winter erarbeitet: „Ich weiß, dass ich meinen Beinen vertrauen kann. Die Ballwechsel wurden länger, intensiver und immer öfter ballte Kerber danach ihre Hand zur Faust. „Ich wusste, ich habe den ersten Satz verloren. Aber ich habe nie daran gezweifelt, dass ich trotzdem gewinne“, sagte Kerber, die schließlich 4:6, 6:3, 6:2 triumphierte.
Wieder einer dieser Momente, in denen man sich über die Entwicklung der Angelique Kerber in den vergangenen zwölf Monaten nur wundern kann. Die deutsche Nummer eins weiß nämlich sehr wohl, wie gut sie ist und braucht dafür keine Statistik zu kennen. „Natürlich habe ich heute viel mehr Selbstbewusstsein“, sagte Kerber.
Den endgültigen Beweis für ihren Aufstieg zur Spitzenspielerin erbrachte Kerber am späten Freitagabend selbst. An ein Spiel gegen ihre nächste Gegnerin Petra Martic könne sie sich nicht erinnern. Und tatsächlich: Die neue Kerber, die selbst Spitzenspielerinnen wie Maria Scharapowa und Viktoria Asarenka fürchten, hat nie gegen die Kroatin gespielt. Die alte, zaghafte und zweifelnde Kerber hat dagegen zweimal gegen Martic verloren: 2008 und 2009. In einem anderen Leben. (sid)