Vier Stunden und viereinhalb Minuten Formel 1, mit einer Regen-Pause, in die am Pfingstsonntag locker ein Tatort gepasst hätte. Vier Stunden und dreieinhalb Minuten lang lag Sebastian Vettel beim Großen Krimi-Preis von Kanada in Führung. In der letzten Runde, als nach sechs Safety-Car-Phasen das effektive Zeitlimit von zwei Stunden schon abgelaufen ist, unterläuft dem Heppenheimer der einzige Fehler bei dieser erschwerten Konzentrationsübung hinter dem Lenkrad – und genau dieser kostet ihn den schon sicher geglaubten sechsten Sieg im siebten Saisonrennen. Was für ein bitterer Ausrutscher im Feuchtgebiet.
Chaos-Grand-Prix, eine Zitterpartie, ein Sensationsrennen – es gibt viele Prädikate für diese Mutprobe der Formel-1-Piloten. Vor allem aber war es die perfekte Sonntagunterhaltung, nachdem der Ausflug nach Übersee richtig auf Touren gekommen war. McLaren-Teamchef Martin Whitmarsh fühlte in der Schlussphase einen Puls von 250.
Den McLaren von Jenson Button im Nacken, der sich nach sechs Boxenstopps (Vettel: drei) vom letzten auf den zweiten Platz herangeschoben hat, weicht der Heppenheimer für einen Moment von der schmalen, trocken gefahrenen Ideallinie ab. Es dreht sich lediglich um 30 Zentimeter – die Hinterräder blockieren, das Heck des Red Bull gerät ins Schlingern, Vettel fängt es ab, doch da ist der Chrompfeil vorbei. „Hölle, Hölle, Hölle“ brüllt der Brite nach dem zehnten Sieg seiner Karriere ins Helmmikrofon, später bilanziert er heiser: „Das war das schwerste und beste Rennen, das ich je gefahren bin.“
Lange Safety-Car-Phase
Schon der Start erfolgte hinter dem Safety Car, nach einer halben Stunde und 24 Runden war die Piste überflutet und unfahrbar geworden, erst ab Runde 54 gab es die volle Punktzahl. Spektakuläre Bilder, spektakuläre Aktionen – und die von Vettel schon nach seiner erneuten Pole-Position prognostizierte „Reise in die Ungewissheit“.
Vettel kämpft nach den 70 Runden auf dem schon im Trockenen gefährlichen Circuit Gilles Villeneuve noch einmal. Gegen den Frust: „Das fuchst mich, denn natürlich überwiegt die Enttäuschung, wenn man immer alles im Griff hat, nur ganz zum Schluss nicht, und dann den Sieg aus der Hand geben muss.“ Die eigentliche Panne ist nicht erst im letzten Umlauf passiert, als der Gegner auf frischeren Reifen nicht mehr zu bändigen war – Red Bull hatte Vettel nicht rechtzeitig angewiesen, seine zuvor komfortable Führung noch weiter auszubauen. „Ich war in der Phase nach dem Neustart zu konservativ“, ärgert sich der 23-Jährige, „da hätte ich die Kuh ein bisschen mehr fliegen lassen müssen.“ Außerdem war offenbar einmal mehr die Zusatzpower von KERS nicht verfügbar – ein Nachteil, der Button durch seinen Geschwindigkeitsüberschuss in den beiden Überholzonen in die Hände spielte.
Trotz dieser Gemengelage der Unzulänglichkeiten hat Vettel, der vor Mark Webber und Michael Schumacher ins Ziel kam, Recht, wenn er behauptet, dass das Rennen „ein wichtiger Schritt mit wichtigen Punkten war“. Seine härtesten WM-Rivalen Fernando Alonso und Lewis Hamilton waren – jeweils nach Kollisionen mit Sieger Button – punktlos ausgeschieden. In der Gesamtwertung führt der Titelverteidiger nun mit 161 Punkten vor Button (101) und Teamkollege Webber (94), erst dann folgen Hamilton (85) und Alonso (69).
Im Blindflug unterwegs
Extreme Bedingungen kommen den extremen Charakteren unter den Fahrern entgegen. Und denen, die bei aller Aggressivität das Gehirn eingeschaltet lassen. Button, Vettel, Webber und Schumacher, aber auch der lange auf Podiumskurs fahrende Japaner Kamui Kobayashi (am Ende Sechster) haben die Aufgabe im Blindflug – von vorne Gischt, nach hinten keine Sicht – bravourös gemeistert. Mehrfach stand der Grand Prix kurz vor dem Abbruch. „Das waren unglaublich emotionale vier Stunden“, bilanziert Sieger Button, und der Film, der hinter seiner Stirn abläuft, ist ihm förmlich an der Stirn abzulesen – Rain Man. Mit dem Schlusssatz: „Manchmal war ich im Nirgendwo, dann im Irgendwo, wieder im Nirgendwo und schließlich im Irgendwo.“ Irgendwo da, wo oben ist.
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