Essen. Die Vergabe der Weltmeisterschaft 2022 nach Katar bleibt ein Skandal. Die Hysterie in Deutschland war dennoch zu groß. Ein Leitartikel.
Noch zwei Spiele, dann ist auch diese Fußball-Weltmeisterschaft vorbei, die wie keine andere vor ihr für so viel Verärgerung, Aufregung, Protest und Zwist gesorgt hat. Da können die besten Ballbeweger der Welt noch so schön zaubern – der Fußball verschleiert nicht das widerliche Gebaren des Weltverbandes Fifa und die skandalöse Vergabe der WM an Katar. Sie muss als WM der Schande in die Geschichte eingehen. Aber es darf bezweifelt werden, dass die Fifa Lehren aus dem Theater um dieses Turnier ziehen wird: Saudi-Arabien hat sich für eine Bewerbung um die WM 2030 bereits in Stellung gebracht.
Die kritische Sicht auf Katar ist eine europäische
„Die beste WM aller Zeiten“ hatte Fifa-Chef Gianni Infantino angekündigt – zu gerne hätte er gesehen, dass alle darauf reingefallen wären. Weltweit verurteilt wurde diese WM jedoch auch nicht. Die höchst kritische Sicht auf den Gastgeber, der sich nicht um Menschenrechte, nicht um Gleichberechtigung und nicht um Selbstbestimmung schert, ist eine europäische. Ob Südamerikaner, ob Afrikaner, ob Asiaten: Sie alle feierten fröhlich auf den Tribünen. Und selbst die Arbeitsmigranten aus Indien, Pakistan, Bangladesch und Nepal trafen sich in einem Cricket-Stadion vor den Toren Dohas, um auf einer Großleinwand die Stars zu bestaunen und zu bejubeln. Obwohl doch so viele ihrer Kollegen ihr Leben gelassen hatten, als sie für diese WM unter unzumutbaren Bedingungen schuften mussten.
Es ist eine zerrissene WM. Vor allem in Deutschland führte die – zweifelsohne berechtigte – Abneigung gegen die Herrscher von Katar und deren Partner von der Fifa wie so oft in diesen anstrengenden Zeiten zu lauten Debatten. Am meisten gestritten wurde um ein kleines Stück Stoff: die Spielführerbinde mit der Aufschrift „One Love“, mit der mehrere europäische Fußballverbände ein Zeichen setzen wollten. Als die Fifa mit sportlichen Konsequenzen über Gelbe Karten hinaus drohte, knickten sie ein, auch der DFB.
Da war das Geschrei hierzulande groß. Feige, der DFB! Ab nach Hause mit der Nationalmannschaft! Eine plötzlich aufgewühlte deutsche Öffentlichkeit, der es zuvor zwölf Jahre lang kaum aufgefallen war, dass im Jahr 2010 Katar als WM-Ausrichter für 2022 auserwählt worden war, forderte von den Fußballern nun eine unübersehbar gerade Haltung. Getrieben von dieser Hysterie verirrten sich die Nationalspieler vor dem Auftaktspiel in eine störende interne Debatte, die schließlich zur Mund-zu-Geste führte. Als sie dann gegen Japan verloren, wurde ihnen zum Teil von denselben Maximalmoralisten vorgeworfen, sich nicht genügend auf ihre Arbeit konzentriert zu haben. Bizarr: Das einzige Team, das eine klare Botschaft gegen die Fifa ausgesendet hatte, wurde mit Häme überzogen. Wenn man uns schon im Fußball abgehängt hat, so sind wir doch wenigstens Empörungs-Weltmeister.
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Ein paar Fragen sind daher angebracht. Werden demnächst alle Vereinsfans, die sich plakativ vom Fifa-Kommerz sowie vom DFB-Klüngel abwendeten und die WM boykottierten, auch das Stadion nicht betreten, wenn ihr Team in der Champions League gegen Paris Saint-Germain antritt – wie in Kürze Bayern München? Frankreichs Top-Klub wird schließlich von katarischen Eigentümern beherrscht, die sich gerade die Hände reiben, weil die PSG-Superstars Messi und Mbappé im Finale stehen. Und werden all die Prinzipienreiter, die ihr Gewissen beruhigten, indem sie von den Nationalspielern Entschlossenheit verlangten, daheim ihre Heizungen auslassen, wenn künftig das Gas aus Katar kommt?
Und wann reden wir mal über die deutsche Wirtschaft? Katar hält Anteile an Volkswagen, an der Deutschen Bank, an Siemens, an Hapag-Lloyd. War da jemals ein Aufschrei zu vernehmen wie bei der One-Love-Binde? Handel mit nichtdemokratischen Staaten wird mit nötiger Expansion erklärt, vom ebenso millionenschweren Profifußball aber verlangen wir, er dürfe seine Werte nicht verkaufen.
Heuchel-Weltmeister sind wir auch noch.