Doha. Am Sonntag wird der Titelträger ermittelt, aber schon fragt man sich: Wie hat sich die WM in Katar angefühlt? Ein persönliches Fazit.
In Katar wackeln Gewissheiten; früher bin ich mit meinem Opa gerne Kegeln gegangen. Die Treppe führte hinunter zu einer alten Bahn, mein Großvater ließ sich Bier und Schnitzel schmecken und drehte die Kugeln immer genau so an, dass sie dahin rollten, wohin sie rollen sollten. Ich hingegen traf mal einen Kegel, mal zwei, mal vier, nie fielen alle um. So geht es mir hier mit meinen Überzeugungen.
Diese Fußball-Weltmeisterschaft in Katar hat viel Schönes erzeugt: die verdutzten Saudis, als ihnen der Coup über Argentinien gelungen war; die singenden Südamerikaner und Südamerikanerinnen; die Sensationssiege von Marokko; der Weg von Lionel Messi. In Msheireb, eine Art Downtown von Doha, verschmelzen all die Kulturen, verschleierte Frauen flanieren durch die Gassen, westliche Kleidung vermischt sich mit traditionellen Gewändern. Vielleicht naiv, dies rührend zu finden.
WM 2022: Debatte um Menschenrechte und Werte
Man trifft Menschen wie Jashim Uddin, 41 Jahre alt, vor sechs Jahren hat er Bangladesch verlassen. Jetzt steht er hier im bordeauxroten Trikot Katars, sogar eine Flagge des Landes hat er sich umgebunden. Oder Ahmed, sein Auto hat er mit rotem Stoff verziert. Seit 13 Jahren lebe er in Katar, in diesem tollen Land, das nun wie Bangladesch sein Zuhause sei, sagt er. Fußball habe er noch nicht gesehen, weil er fast 24 Stunden am Tag Taxi fahre.
Soll ich ihm nun vorschreiben, sich ausgebeutet zu fühlen?
Genau darum dreht sich jedoch vieles: um vorschnelle Urteile, um gerechtfertigte Bedenken. Mit einer vorgefertigten Schablone bin ich aus dem Flugzeug gestiegen, die Realität hat sie wie eine Schere zerschnitten. Noch habe es nicht geschafft, eine neue Form zusammenzubasteln. In die Sätze dieses Textes plumpsen deswegen immer wieder Worte wie „doch“, „andererseits“ und „gleichzeitig“. Kann eine Debatte über die Menschenrechte und Werte, wie wir sie im Westen führen, scheinheilig und zugleich wichtig sein? Irgendwie schon.
Doppelmoral im Westen?
Otto Addo, der bei der WM als Trainer Ghanas mit seinem Team am Achtelfinale gekratzt hat, erzählte uns im Interview, dass er sich schwer damit tue, „mit dem Finger auf andere zu zeigen, wenn vor den Toren Europas auch Menschen sterben und man ein Teil vieler Missstände ist“.
Dass der Westen es sich mit einer Doppelmoral bequem mache, diesen Vorwurf habe ich hier immer wieder gehört. Er stimmt und stimmt gleichzeitig wieder nicht. Wie wäre es gewesen, wenn nicht über die Missstände, die Toten auf den Stadionbaustellen berichtet worden wäre? Wer hätte den Schwachen Gehör verschafft? Katar hat die Welt eingeladen, dann muss es damit leben, dass nachgefragt wird, wie das Land Homosexuelle behandelt, welche Rolle Frauen spielen. Es muss sich die Frage gefallen lassen, warum bei all dem Reichtum so wenig für die Arbeitskräfte übrigbleibt.
Gastarbeiter wollen nach Deutschland
Nur wurden Kolleginnen und Kollegen von mir hier schon von einigen Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern mit begrenzter Arbeitserlaubnis gefragt, ob sie ihnen helfen könnten, nach Deutschland zu kommen. Wie lautet die ehrliche Antwort? Geben wir ihnen eine Chance?
Auch wir schotten uns ab, auch wir wollen unseren Wohlstand erhalten. Wir haben Katar kritisiert, aber haben wir uns in dieser Debatte einmal überlegt, wie wir den Menschen in Bangladesch, in Indien, in Nepal, in Teilen von Afrika eine Perspektive geben könnten?
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Ich habe hier Iranerinnen und Iraner kennengelernt, die die Symbole ihrer Freiheitsbewegung trugen. Sie sahen aus wie ich, haben Träume wie ich – und müssen doch ihr Leben für die Freiheit riskieren. Man sollte nie die Augen davor verschließen, dass Tamim bin Hamad Al Thani, der Emir von Katar, ähnliche Proteste genauso gewaltvoll niederdrücken würde.
WM hat korrupte Fifa bereichert
Die Machthaber lassen nur diejenigen in Ruhe, die sich fügen. Diese Weltmeisterschaft soll ihnen mehr Gewicht in der Welt verleihen. Alles ist zu sauber, zu ordentlich, überall filmen Kameras die Menschen. Reinheitsfantasien des Emirats. Die meisten Menschen aber, die hier leben, können nichts für diese Verhältnisse. Würde ich mich trauen, gegen die Zweiklassengesellschaft aufzubegehren? Ich wurde in eine Demokratie hineingeboren, diese aber sollten wir unbedingt verteidigen!
Diese Weltmeisterschaft hat Leid hervorgerufen, sie hat einen korrupten Fußballweltverband Fifa bereichert, sie hat aber auch Menschen zusammengeführt, arabische Frauen und Männer mit Stolz erfüllt. War sie eine gute Idee? Mir hat sie zumindest eine neue Welt eröffnet.