Doha. Lionel Messi kann Argentinien am Sonntag gegen Frankreich zum WM-Titel führen. Eine Geschichte über eine lange toxische Liebe.

Man muss nur durch Doha spazieren; oder im Stadion sitzen; oder eine der riesigen Malls von Katar besuchen, schon begegnet sie einem, die Frage, ob der kleine Fußballer aus Osario denn nun endgültig der Größte sei. Der Begabteste, der jemals vor einen Ball getreten hat. Lionel Messi, der Beste aller Zeiten?

Messi, Maradona, Pelé: Andere Typen, anderer Fußball

Diese Frage wirkt auch deswegen so faszinierend, weil sie sich nie seriös beantworten lassen wird. Grammatikalisch schließt „aller Zeiten“ die Zukunft mit ein und niemand kann voraussagen, ob nicht doch noch ein talentierterer Spieler auftauchen wird. Ohnehin lassen sich die Größten nur schwer vergleichen. Andere Zeiten, andere Typen, anderer Fußball.

Am Sonntag aber kann Lionel Messi in jedem Fall auf eine Stufe mit Pelé (82) und dem im November 2020 im Alter von nur 60 Jahren verstorbenen Diego Maradona treten, vermutlich befindet er sich wegen seines Könnens längst schon auf einer Ebene mit den beiden. Doch im Fußball werden Geschichten nun mal anhand der Titel erzählt und der begehrteste Pokal der Welt fehlt dem 35-Jährigen noch.

Dadurch bekommt das Finale der Weltmeisterschaft 2022 zwischen Argentinien und Frankreich am vierten Advent (16 Uhr/ARD und MagentaTV) eine historische Note verliehen, sollte Messi seine Mannschaft zum Sieg führen, wird man sich immer an das Spiel erinnern, das diesen begnadeten Spieler vollendete. Und dann spielt auf der anderen Seite noch der designierte Messi-Nachfolger Kylian Mbappé (23) mit, natürlich wird das Endspiel daher als ein Duell des abtretenden Regenten gegen den kommenden Superstar hochgejazzt.

Das WM-Finale zwischen Argentinien und Frankreich wird ein Duell der PSG-Teamkollegen Lionel Messi (l.) und Kylian Mbappe.
Das WM-Finale zwischen Argentinien und Frankreich wird ein Duell der PSG-Teamkollegen Lionel Messi (l.) und Kylian Mbappe. © AFP

Dass Lionel Messi noch einmal diese Gelegenheit erhält, daran war lange nicht zu denken. Die Liebe der Argentinierinnen und Argentinier kann toxisch sein, in Ablehnung umschlagen. Lange wurde Messi in seinem Heimatland vorgeworfen, nicht alles für den Erfolg der Himmelblau-Weißen zutun.

In seinem ersten Länderspiel 2005 sah er bereits wenige Sekunden nach seiner Einwechslung für einen Ellbogenschlag die Rote Karte. Im selben Jahr polterte Gerhard Schröder in der Elefantenrunde, weil er die Wahl Angela Merkels nicht akzeptieren wollte, George W. Bush regierte als Präsident die USA und Jürgen Klinsmann bereitete die deutsche Nationalmannschaft auf das Sommermärchen vor. Nur um zu verdeutlichen, wie lange das schon her ist.

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Der misslungene Start sollte Messis Nationalmannschaftskarriere lange prägen. Beim FC Barcelona schwang er sich zu immer neuen Rekorden auf, mit Argentinien aber erlebte er Rückschlag um Rückschlag (mit Ausnahme der Goldmedaille 2008 bei den Olympischen Spielen in China). Er verlor das WM-Finale 2014 gegen Deutschland (0:1) und blieb in diesem Spiel blass, wirkte apathisch wie häufig, wenn sich Niederlagen anbahnten. Zweimal trat er zurück, um dann doch weiterzumachen. Immer wurde er dabei verglichen mit dem vergötterten und verklärten Diego Maradona, der 1986 die WM im Alleingang gewann und durch seine wilde Rockstarhaftigkeit viel besser zur Volksseele passte.

Es schien, als würde dieser Hochbegabte an seinem Land verzweifeln. Und das Land an ihm.

Jetzt aber beeinflusst Messi das Spiel so nachhaltig wie noch nie. Gemeinsam mit Profis, die ihn in ihrer Jugend angehimmelt haben. Mit dem Trainer Lionel Scaloni, der zu Beginn genauso kritisch beäugt wurde wie Messi und damals 2005 bei Messis Roter Karte auf dem Platz stand. Messi habe damals nicht aufgehört zu weinen, berichtete Scaloni einmal.

Toni Kroos über das Finale Argentinien gegen Frankreich: Der Kommentar im Video-Clip von Magenta TV

Der 44-Jährige schaffte es, die Nummer 10 so einzubauen, dass diese sich Ruhephasen nehmen kann, weil alle anderen für sie arbeiten, um dann im entscheidenden Moment herauszuragen. Und Messi scheint eine Seite in sich zu entdecken, die seine Introvertiertheit in einem Land voller Extrovertiertheit zuvor überdeckt hatte. Plötzlich schimpft der dreifache Vater sogar im Fernsehen, provoziert die Gegner und spricht nach Spielen lange und ausführlich mit fast allen wartenden Journalisten.

Es gibt ein Video, das einen Einblick in die argentinische Kabine vor dem Finale der Südamerikameisterschaft gibt. Darin bilden die Mitspieler einen Kreis um Lionel Messi wie ein verschworener Haufen, wie eine überzeugte Bande, und der Introvertierte spricht zu ihnen, lässt bei seinen Worten die rechte Hand mehrmals runterschnellen, um die Bedeutung zu unterstreichen. „Wir haben 45 Tage lang unsere Familien nicht gesehen für diesen Moment“, sagt Messi.

Argentinien gewann das Finale gegen Brasilien im legendären, aber aufgrund der Corona-Krise leeren Maracana-Stadion von Rio mit 1:0. Eine Erlösung für Messi, für das Land, als Kapitän konnte er endlich seinen ersten großen Pokal hochheben. „Stell dir vor, wir hätten dieses Finale nicht gewonnen. Es wäre noch ein verlorenes Endspiel mit mir gewesen, ich hätte noch mehr Kritiken abbekommen“, hat Messi danach in einem Interview erklärt.

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Nun könnte am Sonntag der noch bedeutsamere Pokal folgen. In Katar wird das Finale aufgebauscht als das Duell zwischen Messi und Mbappé, beide sind bei Paris Saint-Germain angestellt, dem von einem katarischen Staatsfond mit Geld überschütteten Klub. Abseits des Rasens lassen sich an Messi all die Widerlichkeiten des modernen Fußballs aufzeigen, kaum ein Werbeangebot schlägt er aus, den FC Barcelona trieb er durch sein Gehalt fast in die Pleite, Paris fing ihn mit vielen Millionen auf.

Argentinische Reporterin singt Loblied auf Lionel Messi

Vermutlich erwärmt seine Geschichte trotzdem die Herzen, weil sie zeigt, dass Fußball immer noch etwas in den Menschen erzeugen kann. „Sie haben die Argentinier berührt. Und das geht für mich weiter als der Gewinn jeder Weltmeisterschaft“, sagte eine argentinische Reporterin nach dem Halbfinale am Ende ihres Interviews mit brechender Stimme zu Lionel Messi. „Es gibt kein Kind, das kein Nationaltrikot besitzt. Sie haben wirklich ein Zeichen in unser aller Leben gesetzt.“

Das Land und sein introvertierter Star haben zueinandergefunden.