Al-Chaur. Frankreich kann am Sonntag im Finale gegen Argentinien seinen WM-Titel verteidigen. Spektakuläres ist dabei nur zweitrangig.

Die Kameras waren in diesem Moment auf andere gerichtet, auf die französischen Spieler in ihren blauen Trikots, die sich vor ihrer Miniaturausgabe eines Fanblocks in den Armen lagen. Auf die marokkanischen Spieler, denen Tränen in den Augen standen. Didier Deschamps klatschte daher abseits der Aufmerksamkeit in die Hände, tanzte ein wenig über den Rasen, zwei, drei rhythmische Schritte. Ein einsamer Danseur, wie es auf Französisch heißt, ehe der 54-Jährige wieder nüchterner auf das Geschehen hinter ihm schaute.

Man musste daran denken, dass der französische Nationaltrainer seine Mannschaft genauso in das Halbfinale in Al-Khor geschickt hatte. Nur kontrolliert sollte sie tanzen, ansonsten nüchtern, lösungsorientiert, anwendungsbezogen bleiben und was sich noch alles für Worte finden lassen, die normalerweise in deutschen Großraumbüros auftauchen, doch zugleich die Spielweise des wohl bestbesetzten Kaders in Katar beschreiben. 2:0 hatte der Weltmeister gegen Marokko gewonnen, am Sonntag (16 Uhr/ARD und MagentaTV) kann die Équipe Tricolore nun als erst dritte Nation den Titel verteidigen. Bislang ist dies nur Italien (1934 und 1938) und Brasilien (1958 und 1962) gelungen.

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Ähnlich nüchtern wie Real Madrid

Einen besonderen Platz in den WM-Geschichtsbüchern hätte Frankreich damit sicher, aber ob sich einmal auch erzählt wird, dass diese Generation weltweit Begeisterung entfacht hat? Wofür steht diese Elf? Für Pragmatismus. Für Siegeswillen. Manche beschreiben sie sogar als Zyniker des Fußballs, weil dieser Kader für den Erfolg bereit ist, all das Spektakuläre, das in ihm schlummert, hintenanzustellen.

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Das erinnert an das Real Madrid der vergangenen Saison, das selten besser war und doch die Champions League gewann. Vermutlich können sich die meisten noch daran erinnern, wie Ex-Nationalspieler Toni Kroos nach dem 1:0-Finalsieg über Liverpool erzürnt das ZDF-Interview abbrach, weil Moderator Nils Kaben zweimal nachfragte, warum Madrid so in Bedrängnis gekommen sei. Kroos‘ Botschaft: Für Erfolg rechtfertigt man sich nicht.

Lange nach seinem einsamen Tanz begab sich Didier Deschamps in den Medienraum des Al-Bayt-Stadions, die Armbanduhr am linken Handgelenk verriet ihm, dass der nächste Tag in Katar längst angebrochen war. „Oh, ganz schön spät“, sagte er mehr zu sich selbst und berichtete dann, wie stolz er auf seine Mannschaft sei. „Es war nicht einfach, aber wir haben unsere Qualität, unseren Spirit gezeigt. Wir waren nicht perfekt, vielleicht hätten wir besser spielen können.“

Eine Finale voller Bedeutung

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Das Endspiel am vierten Advent trieft voller Bedeutung. Lionel Messi kann seine Karriere mit dem ersten WM-Titel krönen. Kylian Mbappé, der designierte Messi-Nachfolger, könnte im Alter von 23 Jahren bereits zum zweiten Mal den begehrtesten Pokal im Fußball in die Luft halten. Dies schaffte vorher nur die brasilianische Sturmlegende Pelé, die derzeit gegen den Krebs kämpft. Pelé war auch dabei, als Brasilien 1962 seinen Titel verteidigte. Viel historischer kann es also nicht mehr werden.

Aus der Ruhe bringen wird das Deschamps eher nicht. Vermutlich wird er seine Mannschaft ähnlich verhalten wie gegen Marokko ins Endspiel schicken. Die Balance steht bei ihm im Vordergrund, Deschamps gilt als einer, der einen Hang zur harten Abwehrarbeit hat. Früher gehörte er selbst zu den besten defensiven Mittelfeldspielern der Welt, als Kapitän führte er Frankreich 1998 zum WM-Titel im eigenen Land, schon damals war er für die Stabilität zuständig.

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Seine Spieler folgen ihm, verteidigen mit allen Fasern ihres Körpers und setzen dann auf Umschaltmomente. Kylian Mbappé auf der rechten und Ousmane Dembélé auf der linken Seite bilden das rasanteste Außenstürmerduo der Welt, Antoine Griezmann verbindet im Zentrum die Defensive mit der Offensive. Egal wie heftig der Gegenwind bläst, Frankreich vertraut darauf, dass es über genügend Klasse verfügt, im richten Moment zu treffen. Gegen England (2:1) und Marokko musste der Weltmeister in vielen Phasen leiden, benötigte einen starken Torhüter Hugo Lloris.

Enorme Qualität von der Bank

Didier Deschamps verfügt nun mal über beneidenswert viel Qualität in seinem Kader. Am Mittwochabend veränderte der Trainer das Spielgeschehen durch die Einwechslung zweier Bundesligaspieler, die in der deutschen Nationalmannschaft vermutlich in der Startelf stehen würden. Der Gladbacher Marcus Thuram gab Frankreich mehr Sicherheit auf der linken Seite, Mbappé konnte ins Zentrum rücken und dort Kräfte sparen. Diese nutzte er für ein Dribbling, das das Tor des gerade eingewechselten Frankfurters Randal Kolo Muani zum 2:0 in der 78. Minute einleitete. Nur 44 Sekunden befand sich dieser zu diesem Zeitpunkt auf dem Rasen. „Es ist magisch, ich habe keine Worte, um es zu beschreiben. Ich bin immer noch in meinen Träumen und habe Schwierigkeiten aufzuwachen“, sagte Kolo Muani.

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Nach dem Triumph 1998 als Spieler und 2018 als Trainer könnte Deschamps am Sonntag zum dritten Mal den goldenen Pokal in den Händen halten. Zwei WM-Titel als Trainer, das hat bislang nur Italiens Vittorio Pozzo 1934 und 1938 geschafft. Jetzt kann Deschamps diesen historischen Erfolg wiederholen, pragmatisch wird er dabei vorgehen. Aber sollte seine Mannschaft das Finale gewinnen, wird er ganz sicher deutlich ausgelassener tanzen.