Eugene. Es war eine Machtdemonstration: Fred Kerley gewann die 100 Meter bei der Heim-WM – und Silber und Bronze gab es auch für die USA.

Es fühlte sich an wie in einem Kinofilm. Erst ertönte ohrenbetäubender Lärm, dann drückte eine Druckwelle die Zuschauer im Leichtathletik-Stadion von Eugene in die Sitze. Zwei Kampfjets flogen eng beieinander in geringer Höhe über den Schauplatz des kommenden Spektakels. Top Gun. Live im US-Bundesstaat Oregon. Es war der Auftakt einer Riesenshow, deren eigentlicher Hauptteil nur knapp zehn Sekunden dauern sollte. Knapp zehn Sekunden, die diese WM speziell für die Gastgeber schon am zweiten Wettbewerbstag unvergesslich machen sollten. Fred Kerley gewann die 100 Meter in 9,86 Sekunden. Dahinter: Marvin Bracy, 9,88 Sekunden. Auf Rang drei: Trayvon Bromell, ebenfalls mit 9,88 Sekunden gestoppt. Drei Amerikaner holten alle drei Medaillen beim bedeutendsten Rennen der WM in Amerika. Ein Blockbuster.

„Wir haben gesagt, dass wir das hier zu Hause holen wollen. Und wir haben es getan“, rief Fred Kerley nach dem Sieg euphorisch ins Mikrofon. „Ich bin so stolz.“

Der schwere Weg zum Weltstar

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Es war sein Moment. Der Augenblick, auf den der 27-Jährige so lange hingearbeitet hatte. Schwer ist es, in der Leichtathletik zum Weltstar zu werden. Siehe Stabhochsprung-Wunder Armand Duplantis oder die Hürdensprinter Karsten Warholm und Sydney McLaughlin. Der eine drückt sich mit Hilfe eines Stocks in nie zuvor erreichte Höhen, die anderen haben die Stadionrunde samt Hindernissen in nie für möglich gehaltenen Zeiten gemeistert. Sie sind Stars dieser WM 2022, aber eben nur Stars aus der zweiten Reihe, Weltrekorde hin, Weltrekorde her. Die Hauptrolle wird in der Leichtathletik über die 100 Meter vergeben.

Fred Kerley hat für diese Rolle trainiert, er spielte auch schon auf der Pressekonferenz vor dem WM-Start den starken, schweigsamen Typen. Wie im Film. So wie Clint Eastwood einst in den Sergio-Leone-Western den Mann ohne Namen gab. Kerleys Antworten waren stets kurz, keine länger als zehn Sekunden. Wie seine Auftritte auf der Tartanbahn. Doch anders als die Filmfigur hat Kerley den Drang, dass sein Name bekannt wird. „Ich möchte eine Legende werden wie Usain Bolt“, hatte er vor nicht allzu langer Zeit angekündigt.

Es sah so verdammt leicht aus

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Der Anfang ist gemacht, in Eugene lieferte er in der Nacht auf Sonntag mit seinen US-Teamkollegen einen legendären Lauf. Sicher, da war der Jamaikaner Oblique Seville. Da war Landsmann und Titelverteidiger Christian Coleman. Oder der Südafrikaner Akani Simbine. Sie alle sprachen ebenfalls für die Hauptrolle vor, die an diesem Abend aber zweifelsfrei für Fred Kerley vorgesehen war. Der Mann aus Texas war als Jahresschnellster zur WM gekommen (9,76), im Vorlauf hatte er mit seinen 9,79 Sekunden ein Ausrufezeichen gesetzt. Das eigentlich Erschreckende für die Konkurrenz dabei: Es sah so verdammt leicht aus. Nicht so grazil und technisch versiert wie einst bei Usain Bolt. Dennoch kraftvoll und mühelos zugleich. „Usain Bolts Weltrekord hat noch 24 Stunden Gültigkeit“, kündigten einige US-Medien daraufhin an.

Als die Sprinter dann zum großen Finale auf die Bahn traten, war das Dröhnen der Kampfflugzeuge verschwunden, es wurde totenstill im Stadion. On your marks, get set – Pistolenschuss. Die Show begann. Als sich eine Führung herauskristallisierte, war es Marvin Bracy, der leichte Vorteile hatte. Doch nach 50 Metern setzte sich Kerley durch und hielt den hauchdünnen Vorsprung. Ein banger Blick auf die riesige Anzeigetafel des Stadions. Sekunden vergingen, ehe die offiziellen Zeiten aufleuchteten. Dann jubelte Kerley, begab sich sofort auf die Ehrenrunde. 9,86 Sekunden – damit war er so schnell wie einst sein Landsmann Carl Lewis 1991 in Tokio. Der Weltrekord von Usain Bolt, 2009 im Berliner Olympiastadion aufgestellt (9,58), geriet aber nicht in Gefahr. In jenen Momenten war das den Protagonisten des Abends aber egal. „USA“ schallte es immer wieder laut durchs Stadion, als auch Bracy und Bromell als Medaillengewinner feststanden. „Es ist ein spezieller Moment“, sagte Bromell mit Tränen in den Augen. „Wir kamen hierher, um zu gewinnen. Und wir haben es geschafft.“

Eines von 13 Kindern

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Ein Happy End also. Wie im Film. Und ja, zufällig ist auch Kerleys Geschichte filmreif. Von ganz unten nach ganz oben. Eine Story voller Herzschmerz und Pathos, wie sie die Amerikaner lieben, wie sie in den dort so populären Sportfilmen immer und immer wieder leicht variiert erzählt wird. Als Kleinkind wurde Frederick Lee Kerley zusammen mit seinen vier Geschwistern von seiner Tante Virginia adoptiert, sie zog damit 13 Kinder groß. Nicht immer wurden alle satt, als Teenager landete Kerley fast im Gefängnis. Über den Sport schaffte er es ans College. „Man muss den Glauben haben, um nach oben zu kommen. Man muss daran glauben, dass man gewinnen wird“, sagte Kerley einst. „Man muss daran glauben, dass man Großes vollbringen wird - und ich glaube, dass ich Großes vollbringen werde.“

2017 und 2019 startete er bei der WM noch über die 400 Meter, wurde Siebter und Dritter. Erst nach einer Verletzung konzentrierte er sich auf die 100 und 200 Meter. Die Königsdisziplinen. Und wäre nicht der Italiener Marcell Jacobs (27) gewesen, hätte sich Kerley schon vergangenen Sommer bei den Olympischen Spielen in Tokio zum Star der Leichtathletik gekrönt. Doch Jacobs düpierte überraschend alle und gewann die 100 Meter in 9,80 Sekunden. Kerley rannte 9,84 Sekunden. Silber, eine Schmach, die ihn in den Folgemonaten noch härter arbeiten ließ.

Zur Revanche mit Jacobs aber kam es in Eugene nicht. Der Olympiasieger, zuletzt von Verletzungen geplagt, trat nach seinem Vorlauf wegen Muskelbeschwerden nicht mehr an. Kerley wird sich gedulden müssen bis zum Wiedersehen. Fortsetzung folgt.