Herzogenaurach. Nationalmannschaftsmanager Oliver Bierhoff spricht im großen Interview über die kommende WM in Katar. Er hat klare Vorstellungen.
Oliver Bierhoff ist Profi. Der Nationalmannschaftsmanager lächelt zur Begrüßung, gibt die Faust und lässt sich tief in seinen Sessel im Besprechungsraum des Basecamps der Nationalmannschat in Herzogenaurach fallen. „Sprechen wir nur über Katar?“, fragt er. Man merkt, dass er lieber über Fußball, über das gute Spiel gegen England und möglicherweise auch das nächste gute Spiel an diesem Samstag (20.45/RTL) gegen Ungarn sprechen würde. Aber: Oliver Bierhoff ist Profi. Und ja: Fünf Monate vor der Wüsten-WM sprechen wir nur über Katar. Zumindest fast nur.
Herr Bierhoff, am Dienstag ist Ihre Nationalmannschaft gemeinsam mit den englischen Spielern vor dem Nations-League-Spiel in München als Zeichen gegen Rassismus niedergekniet. Knieten auch Sie nieder?
Oliver Bierhoff: Klar. Dieser Kniefall ist ja ursprünglich im American Football in der NFL durch Colin Kaepernick entstanden. Die englische Fußballnationalmannschaft hat sich nun seit einiger Zeit dazu entschieden, vor jedem Spiel auf die Knie zu gehen, um ein Zeichen gegen Rassismus zu setzen. Diese Botschaft wollen wir natürlich unterstützen.
Was haben Sie in dem kurzen Moment gedacht?
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Oliver Bierhoff: Ich hoffe in dem Moment, dass so ein Zeichen auch eine Wirkung hat. Wir hatten ja hier in Herzogenaurach gerade erst einen Austausch mit Expertinnen und Experten zur Menschenrechtslage in Katar und da wurde uns ein weiteres Mal gespiegelt, dass diese deutlichen Zeichen wichtig sind im Kampf gegen Rassismus und Homophobie. Es hat mich gefreut, dass das Publikum in München währenddessen applaudiert hat.
Wir wollen heute vor allem über Homophobie reden – allerdings nicht in Deutschland, sondern beim WM-Gastgeber Katar. Halten Sie es für richtig oder übertrieben, dass Sie sich zu dieser Thematik seit der WM-Vergabe vor elf Jahren immer wieder äußern müssen?
Oliver Bierhoff (überlegt lange): Die deutsche Nationalmannschaft und der Deutsche Fußball-Bund haben nicht nur sportliche, sondern auch gesellschaftliche Relevanz, sie haben eine gewisse Kraft. Deshalb glaube ich schon, dass es grundsätzlich gut ist, dass wir auch immer wieder über diese Themen abseits des Sportlichen sprechen, um ein Bewusstsein zu schaffen. Mit Thomas Hitzlsperger haben wir beim DFB jemanden, der sich als Botschafter für Vielfalt dieser Thematik kundig angenommen hat.
Trotzdem fragen wir heute Sie: Darf eine WM in einem Land stattfinden, in dem Schwule und Lesben verfolgt, eingesperrt und bestraft werden?
Oliver Bierhoff: Ein solcher Umgang mit Homosexuellen ist absolut inakzeptabel. Er entspricht in keinster Weise meiner Überzeugung. Ganz grundsätzlich stellt sich beim Fall Katar die Frage: Welche Vergabekriterien für eine Weltmeisterschaft legt die Fifa eigentlich an? Denn die Vergabe eines Turniers ist doch das schärfste Schwert, um auf die nötigen Veränderungen zu drängen. Sie müssen vor der Vergabe passieren und nicht erst danach, sonst hat man kein Druckmittel mehr, um sie durchzusetzen. Ich habe das schon vor Jahren mal angesprochen, dass es eine große Herausforderung für die großen Verbände wie Uefa, IOC und eben Fifa ist, sich genau über diese Frage der Vergabekriterien Gedanken zu machen. Das Problem betrifft ja nicht nur den Fußball. Ich bin der Überzeugung, dass die Vergabekriterien eng mit Menschenrechtsfragen verknüpft werden müssen.
Wir waren im März rund um die Auslosung eine längere Zeit im Land und haben unter anderem den Organisationschef Hassan Al-Thawadi und auch Fifa-Chef Gianni Infantino gesprochen. Beide versichern genau wie Emir Tamim bin Hamad Al-Thani, dass alle willkommen seien. Hat man vergessen, auch der LGBTQ-Gemeinde Bescheid zu geben?
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Oliver Bierhoff: An dem Versprechen, dass wirklich jeder willkommen ist, wird Katar sich messen lassen müssen. Ich kann das nur schwer einschätzen, obwohl ich mit sehr vielen Menschen gesprochen habe – sowohl mit Vertretern des Organisationskomitees als auch der Fifa. Auch mit dem deutschen Botschafter und mit Expertinnen und Experten von Menschenrechtsorganisationen. Da wird mir einerseits die Notwendigkeit von Veränderungen beschrieben, andererseits wird Katar als wichtiger Partner Deutschlands in der Region gesehen. Nicht nur wegen der Lieferung von Flüssiggas, sondern auch wegen weiterer politischer Themen wie beispielsweise der Lage in Afghanistan. Es gilt, die fortschrittlichen Kräfte in Katar zu stärken. Auch wenn es gleichzeitig noch viel zu tun gibt.
Verstehen Sie Fans, die wegen all dieser Fragen nicht nach Katar wollen?
Oliver Bierhoff: Natürlich. Sicherlich darf man die Hoffnung haben, dass sich die Kataris während der WM tolerant zeigen. Aber ich verstehe die Bedenken.
Konnten Sie auf Ihren Besuchen die schwierige Thematik von Schwulen und Lesben im Emirat denn wirklich thematisieren oder brüskiert man dadurch den Gastgeber?
Oliver Bierhoff: Die gleiche Frage haben wir uns schon in Russland gestellt. In Brasilien und Südafrika hatten wir eher das Thema Korruption. Vielleicht müssen wir uns in diesen Fragen ein Beispiel an Robert Habeck nehmen, dem es gelingt, kritische Dinge anzusprechen und trotzdem eine Form von Realpolitik zu betreiben. Man muss offenbar akzeptieren, dass gewisse Entwicklungen Zeit brauchen.
Die LGBTQ-Gemeinde nimmt Zeichen wie am Dienstag gegen England, als neben dem Niederknien auch das Stadion in Regenbogenfarben geleuchtet hat, als starkes Bekenntnis wahr. Ist eine vergleichbare Symbolik in schwierigeren Ländern wie am Sonnabend in Ungarn oder im Winter in Katar denkbar?
Oliver Bierhoff: Wir sind in dieser Frage auch im Austausch mit anderen Verbänden. Ich würde mir eine geschlossene Position der Europäer wünschen. Wir sollten die Plattform WM nutzen, gleichzeitig sollten wir ein Wettrennen des besten, schönsten und kreativsten Protests vermeiden. Wir brauchen eine geschlossene Stimme, die mit allen Verbänden abgestimmt ist. Denn dann wird sie auch wahrgenommen.
Lassen Sie sich die Kritik gefallen, dass diese Abstimmung schon lange hätten passieren können? Die skandinavischen Verbände haben sich beispielsweise schon vor Monaten abgestimmt.
Oliver Bierhoff: Wir sind quasi seit Abpfiff der EM im Austausch hierzu, die gesamte Mannschaft hat in der vergangenen Woche an dem Symposium teilgenommen, an dem auch LGBTQ+ thematisiert wurde. Im Nachhinein sprach einer der Diskutanten davon, diese Initiative der Mannschaft sei einzigartig in Europa. Komplexe Themen benötigen manchmal eben etwas Zeit und Tiefe.
Warum ist dann der norwegischen Verbandspräsidentin, die beim Fifa-Kongress vor Kurzem als einzige Funktionärin offene Kritik äußerte, niemand zur Seite gesprungen?
Oliver Bierhoff: Ich habe es so wahrgenommen, dass DFB-Präsident Bernd Neuendorf mit ihr einen sehr guten Austausch hat.
Sie haben kürzlich in einem Interview gesagt, dass der DFB und alle drumherum Haltung zeigen müssten. Was bedeutet das eigentlich?
Oliver Bierhoff: Wir haben Menschenrechte, die unverhandelbar und universell sind. Nach ihnen muss man leben und handeln – und immer wieder Zeichen setzen. Aber ich möchte Ihnen ein anderes Beispiel geben. Wie unsere Mannschaft mit den Brasilianern nach dem 7:1-Sieg im Halbfinale 2014 umgegangen ist, das zeugt von Haltung, von Respekt, den man wie selbstverständlich lebt. So etwas kannst Du nicht künstlich mit einer Flagge, einer Binde, oder einem anderen Symbol erzeugen. Trotzdem ist etwa auch ein Stadion, das in den Regenbogenfarben leuchtet, wie die Arena in München am Dienstag, wichtig. Genauso wie der Wunsch, dass wir unsere Stimme erheben, wenn es nötig ist. Ebenso wichtig ist es aber auch, den Sportler nicht mit Erwartungen zu überfrachten, sondern ihn auch noch Sportler sein zu lassen.
Wir haben im vergangenen halben Jahr einen Großteil der Nationalspieler zu einem ähnlichen Interview angefragt, wie wir es jetzt gerade führen. Manch einer hat überlegt, aber kein einziger hat zugesagt. Haben Sie dafür eine Erklärung?
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Oliver Bierhoff: Wir haben viele Spieler, die eine starke Meinung und Persönlichkeit haben und diese auch vertreten. Jeder darf und kann sich äußern. Man muss es aber auch akzeptieren, wenn ein Spieler den Sport in den Vordergrund stellt. Das hat gerade auch Thomas Hitzlsperger im Rahmen des Katar-Dialogforums an die Spieler gerichtet gesagt.
Sie hatten unlängst in Herzogenaurach eine Podiumsdiskussion mit verschiedenen Menschenrechtsorganisationen. Wie haben die Spieler dieses Angebot angenommen?
Oliver Bierhoff: Alle waren da. Für uns ist es wichtig, dass wir die Spieler informieren und, dass die Spieler auch unterschiedliche Sichtweisen hören. Im März haben wir den Dialog mit Human Rights Watch und Amnesty International begonnen, nun haben sich auch direkt Betroffene geäußert. Erlebnisse werden dadurch emotionaler und greifbarer. Die Betroffenen haben uns bestätigt, dass ihnen Symboliken wichtig seien. Wir werden diesen Austausch beim kommenden Lehrgang im September fortsetzen.
Sie haben ja sicherlich auch schwule oder lesbische Bekannte im Freundeskreis. Wurden Sie persönlich eigentlich in den vergangenen Jahren zu dieser Thematik in Bezug auf Katar mal im engeren Freundeskreis konfrontiert?
Oliver Bierhoff: Natürlich habe ich seit Jahrzehnten auch schwule und lesbische Freunde. Das Thema Katar betrifft aber wahrscheinlich aus unserer deutschen Perspektive eher die Fußballfans, die eigentlich gerne im Winter zur WM reisen würden. Für sie müssen wir weiter über dieses Thema sprechen.